Das Phantom im Opernhaus
Brittas gesundheitliche Probleme nicht mit den Mordfällen zusammen und gehen uns nichts an.«
»Das stimmt«, pflichtete Paul ihr bei. »Dennoch wirft es neue Fragen auf. In meinen Augen verliert Britta etwas von ihrer Unschuld in dieser Sache. Ich würde zu gern wissen, worin genau ihre psychischen Probleme begründet liegen.«
»Das wird sie dir kaum auf die Nase binden«, meinte Hannah.
»Sie nicht – aber vielleicht ihre Ärztin«, sagte Paul.
»Oh nein, Paul! Du willst nicht schon wieder Frau Glossner nerven, oder? Die wird dich hochkant aus ihrer Praxis werfen!«
»Das denke ich nicht. Ich will nicht unbescheiden klingen, aber ich glaube, sie fährt ein bisschen auf meinen Charme ab.«
»Au Backe!«
»Sieh es mal so, Hannah: Diese Psychologin ist die einzig Vernünftige im Kreis der überspannten Künstlerseelen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Es ist noch etwas Zeit, bevor ich mich in den Smoking für den Opernball werfen muss. Ich werde auf einen Sprung bei der Glossner vorbeischauen und kurz mit ihr über Britta sprechen. Vielleicht ist die Sache völlig belanglos, und alles löst sich in Wohlgefallen auf. Aber wenn ich dem nicht nachgehe, lässt es mir keine Ruhe.«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte Hannah und hörte sich mit ihrem vorwurfsvollen Unterton plötzlich an wie ihre Mutter. »Aber halt mich da bitte raus. Ich will es mir mit Britta nicht verderben.«
28
Ein wenig kam sich Paul selbst wie ein Fall für den Psychiater vor: Als er durch das Treppenhaus des Praxisgebäudes an der Fürther Straße ging, überlegte er, wie man wohl einen Fall wie ihn einstufen würde: jemanden, der unter dem inneren Zwang stand, Verbrechen aufzuklären, auch wenn das weder sein Job war, noch ihn in irgendeiner Art und Weise persönlich weiterbrachte. Wahrscheinlich litt Paul unter einer speziellen, selten auftretenden Psychose, die in einem traumatischen Schlüsselerlebnis aus seiner Kindheit wurzelte. Vielleicht hatte er als Bub auch nur zu ausgiebig Räuber und Gendarm gespielt, dachte er und musste dann über seine eigenen Überlegungen lächeln. Denn eine andere Erklärung für sein seltsames Verhalten lag viel näher und bedurfte nicht der Analyse durch einen Psychologen: Er war ganz einfach ein schrecklich neugieriger Mensch.
An der Anmeldung wurde Paul mit derselben zuvorkommenden Freundlichkeit begrüßt wie beim letzten Besuch in der Praxis. Die nette Assistentin versicherte ihm, dass sie ihn bei Frau Glossner ankündigen würde, vorher hätte diese aber noch einen Patienten in Behandlung. Sie führte Paul in das Wartezimmer, wo er sich sogleich wieder daran machte, die Theaterbilder an den Wänden zu betrachten.
Mit Wonne studierte er die gelungenen Aufnahmen und konnte dank seines allmählich wachsenden Sachverstands die meisten Fotos bestimmten Werken zuordnen. Namhafte Opernaufführungen waren darunter, und auf vielen Bildern erkannte er diesmal Mitglieder des Nürnberger Ensembles, nur dass sie zum Zeitpunkt der Fotoaufnahmen noch deutlich jünger waren.
Es bereitete ihm Freude, so viele inzwischen vertraute Gesichter zu entdecken – von schillernden Persönlichkeiten, deren Welt sich ihm viel zu spät erschlossen hatte. Je mehr er sich auf die Fotos einließ und in die abgebildeten Szenerien eintauchte, desto mehr fühlte er sich mit dem Leben auf der Bühne verbunden. Der Funke war übergesprungen, die berühmten Bretter bedeuteten nun auch ihm zumindest einen kleinen Teil der Welt!
Paul geriet mehr und mehr ins Schwelgen, bis er bei einem Bild hängen blieb. Es handelte sich um eine eher unspektakuläre Aufnahme, die unmittelbar neben der Garderobe hing und bei seinem letzten Besuch vielleicht von einer Jacke oder einem Mantel verdeckt gewesen war. Da das Foto obendrein recht tief hing, musste sich Paul bücken, um es genauer betrachten zu können.
Das Bild zeigte wieder eine typische Szene. Paul tippte auf La Traviata von Giuseppe Verdi. Einige der Darsteller kamen ihm vage bekannt vor, bei einer Sängerin im Mittelpunkt war er sich indes ganz sicher: Sie trug ein prächtiges Kostüm, ihr Haar war entweder aufgesteckt oder durch eine Perücke ersetzt, das Gesicht stark geschminkt. Sie sah in dieser Kostümierung ganz anders aus als heute, wirkte deutlich jünger, war gertenschlank und weitaus attraktiver – und doch war sie nicht zu verkennen. In Pauls Kopf formte sich ein Fragezeichen, das wuchs und wuchs und bald alle anderen Gedanken verdrängte.
Das Fragezeichen
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