Das Phantom im Opernhaus
Verlauf einer Vergewaltigung schilderte. Das Opfer war Evelyn Glossner, damals Ensemblemitglied bei den Städtischen Bühnen. Der Beschuldigte: Norbert Baumann!
Paul schnappte nach Luft. Auf was war er da gestoßen? Evelyn Glossner war missbraucht worden – von ihrem eigenen Kollegen? Eine schreckliche, abstoßende Tat – und eine vieles erhellende Erkenntnis!
Wild entschlossen suchte er nach anderen Dokumenten. Er fand eine Kopie eines weiteren Behördenprotokolls: Es handelte sich um den richterlichen Bescheid über die Einstellung des Verfahrens gegen Baumann aus Mangel an Beweisen und aufgrund einer gegensätzlichen Zeugenaussage. Kein Geringerer als Jürgen Klinger hatte Baumann ein Alibi gegeben.
Paul war zutiefst erschüttert. Also gehörte auch der Dramaturg Klinger, das zweite Todesopfer, zu diesem bösen Spiel. Verstrickt in ein übles Sexualverbrechen, das all die Jahre unter der Oberfläche geschwelt hatte und niemals vergessen worden war.
Allmählich formte sich in ihm ein Bild der vergangenen 14 Jahre im Leben der Evelyn Glossner: Nach der Vergewaltigung verließ sie das Theater, schmiss ihren Job hin und stürzte sich in ein Psychologiestudium. Sicher in erster Linie, um die eigenen seelischen Wunden heilen zu können. Doch später näherte sie sich ihrem alten Berufsfeld wieder an – und den Menschen, die ihr seinerzeit das Schlimmste angetan hatten.
Mit offen stehendem Mund kauerte Paul über den Dokumenten. Er wusste nicht, wie sie es bewerkstelligt hatte, aber für ihn war jetzt klar, dass es sich bei Evelyn Glossner um die Mörderin handelte. Sie war das rächende Phantom!
Paul blieb einige Zeit regungslos sitzen, während er konzentriert nachdachte und sich der Tragweite seiner Entdeckung bewusst wurde. Dann legte er die Dokumente beiseite und stand entschlossen auf. Allmählich kehrten seine Kräfte zurück, sodass er nun schneller und sicherer vorankam. Auf dem Weg zur Fensterfront an der Stirnseite des Arztzimmers hob er einen Stuhl an und prüfte die Stuhlbeine auf ihre Stabilität und Festigkeit. Sie bestanden aus verchromtem Stahl, wie Paul zufrieden feststellte. Damit müsste es klappen, das Sicherheitsglas der Scheiben zu durchschlagen.
Er probierte aus, ob sich die Fensterhebel nicht doch bewegen ließen – erfolglos, wie erwartet. Dann packte er die Stuhllehne mit beiden Händen, drehte sein Gesicht zum Schutz vor Splittern zur Seite und holte weit aus.
Er wollte mit aller Kraft zuhauen, als er mitten in der Bewegung innehielt. Ein Geräusch hatte ihn abgelenkt. Es kam von draußen aus dem Vorzimmer. Paul hielt den Atem an und lauschte. Dann hörte er ganz deutlich das Klimpern von Schlüsseln. Kein Zweifel: Jemand sperrte von außen die Praxistür auf!
30
Paul verharrte in seiner Haltung: Wie versteinert stand er vor dem Fenster, in den Händen noch immer den Stuhl. Er hörte ein leises Pfeifen der Scharniere, als die Praxistür geöffnet wurde. Dann folgten Schritte. Von seiner Position am Ende des Zimmers konnte er nicht in den Vorraum sehen. Doch er war sich sicher, dass es sich um Evelyn Glossner handelte. Kehrte sie zurück, um ihr Todeswerk zu vollenden? War nun er an der Reihe – Opfer Nummer drei?
Seine bangen Angstgefühle wurden schnell von purem Selbsterhaltungstrieb abgelöst. Paul klammerte sich noch fester an den Stuhl, schlich mit dieser dürftigen Waffe am Schreibtisch vorbei bis neben die Tür des Arztzimmers. Sein Herz raste, er musste sein keuchendes Atmen unterdrücken. Gebannt lauschte er in die Stille.
Wieder hörte er Schritte, die langsam näher kamen. Und dann ein leises Flüstern. War die Glossner nicht allein gekommen? Hatte sie einen Helfer mitgebracht?
Paul hob den Stuhl über seinen Kopf, bereit zuzuschlagen, sobald jemand den Raum betrat. Seine Arme zitterten vor Anspannung. Er konnte kaum den Impuls unterdrücken, nach vorn zu preschen und sich auf seine Peiniger zu stürzen, bevor sie wussten, wie ihnen geschah.
Aber er riss sich zusammen. Wartete tapfer.
Bis jemand das Arztzimmer betrat. Paul sah einen Fuß, ein Bein. Dann lugte ein Kopf um die Ecke.
Paul schrie laut auf. Seine Hände krampften sich um die Stuhlbeine, er schnellte einen Schritt vor, schleuderte den Stuhl nach vorn – und konnte ihn im letzten Moment zurückhalten!
»Hannah!«, stieß er voller Unglauben aus.
Hannah, die sich erschrocken gebückt und ihre Arme schützend über dem Kopf verschränkt hatte, richtete sich ängstlich wieder auf. »Was soll das,
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