Das Phantom von Manhattan - Roman
und sprang damit über Bord in die eisige See. Ich hatte in der Ferne schwach flackernde Lichter gesehen, ohne zu wissen, wie weit sie entfernt waren. Aber ich begann, meinen kältestarren Körper in ihre Richtung voranzutreiben, und hatte eine Stunde später auf einem mit Rauhreif bedeckten Kiesstrand Boden unter den Füßen. Ich wußte es damals noch nicht, aber meine ersten Schritte in der Neuen Welt tat ich am Strand der Gravesend Bay auf Coney Island.
Die Lichter, die ich gesehen hatte, kamen von blakenden Öllampen in den Fenstern einiger armseliger Hütten, die etwas höher am Strand oberhalb der Hochwasserlinie standen. Als ich auf sie zustolperte und einen Blick durch die schmutzigen Scheiben warf, sah ich Reihen gebückt arbeitender Männer, die frisch gefangene Fische ausnahmen und filetierten. In einiger Entfernung brannte auf einer freien Fläche zwischen den Hütten ein großes Feuer, um das herum etwa ein Dutzend Gestalten hockten, um sich daran zu wärmen. Ich war vor Kälte halb tot und wußte, daß auch ich an dieser Wärme teilhaben mußte, wenn ich nicht erfrieren wollte. Ich trat ins Licht des großen Feuers, spürte seine Hitze, die mir entgegenschlug, und betrachtete die dort Sitzenden. Meine Maske
hatte ich in die Innentasche meiner Jacke gestopft; der Feuerschein erhellte meinen schrecklichen Kopf, meine abstoßende Visage. Die anderen drehten sich um und starrten mich an.
Ich habe mein Leben lang kaum gelacht. Ich hatte keinen Grund dazu. Aber in dieser Nacht, in der Eiseskälte vor Tagesanbruch, lachte ich innerlich vor Erleichterung. Sie sahen mich an… und achteten nicht weiter auf mich. Denn auf irgendeine Weise war jeder von ihnen mißgebildet. Aus purem Zufall war ich ins nächtliche Lager der Ausgestoßenen von Gravesend Bay geraten - der Parias, die sich ihren kümmerlichen Lebensunterhalt dadurch verdienten, daß sie Fische ausnahmen und filetierten, während die Fischer und die Großstadt schliefen.
Also ließen sie mich an ihrem Feuer trocknen und mich wärmen und fragten, wo ich herkäme. Da ich die Texte aller englischen Opern gelesen hatte, kannte ich ein paar Wörter dieser Sprache und erzählte ihnen, ich sei aus Frankreich geflüchtet. Das machte keinen Unterschied, denn sie waren alle von irgendwo geflohen, hatten sich, von der Gesellschaft verfolgt, auf diese letzte einsame, sandige Landzunge geflüchtet. Sie nannten mich Frenchie und nahmen mich in ihre Reihen auf, so daß ich wie sie in den Hütten auf Haufen stinkender Fischnetze schlafen, für ein paar Dimes nachts arbeiten und von Abfällen leben konnte - oft frierend und hungrig, aber vor dem Gesetz und seinen Ketten und Gefängnissen sicher.
Dann kam der Frühling, und ich begann zu erkunden, was hinter dem Gestrüpp aus Ginster und Strandhafer
lag, der das Fischerdorf von Coney Island abschirmte. Ich erfuhr, daß die gesamte Insel gesetzlos war oder vielmehr nach eigenen Gesetzen lebte. Sie gehörte nicht zu der jenseits des schmalen Meeresarms liegenden City of Brooklyn und war bis vor kurzem von einer schillernden Figur - halb Politiker, halb Gangster - namens John McKane beherrscht worden. Man hatte ihn verhaftet. Aber McKanes Vermächtnis lebte auf dieser verrückten Insel mit ihren Rummelplätzen, Bordellen, Verbrechen, Lastern und Vergnügungen weiter. Auf letztere hatten es die bürgerlichen Leute von New York abgesehen, die jedes Wochenende auf die Insel strömten und ein Vermögen für läppische Zerstreuungen ausgaben.
Anders als die übrigen Ausgestoßenen, die für den Rest ihres Lebens Fische ausnehmen und es wegen ihrer angeborenen Dummheit niemals weiterbringen würden, wußte ich, daß ich mit Intelligenz und Einfallsreichtum aus diesen elenden Hütten herauskommen und ein Vermögen in den Vergnügungsparks verdienen konnte, die schon damals in einem anderen Teil der Insel errichtet wurden. Aber wie? Als erstes schlich ich mich im Schutz der Dunkelheit in die Stadt und stahl Kleidungsstücke: anständige Sachen, von Wäscheleinen und aus leerstehenden Strandhäusern. Dann klaute ich auf den Baustellen Holz und baute mir eine bessere Hütte. Aber mit meinem Gesicht konnte ich mich weiterhin nicht bei Tageslicht in dieser rauhen, gesetzlosen Gesellschaft sehen lassen, in der sich Touristen Wochenende für Wochenende ihr Geld aus der Tasche ziehen ließen.
Dann schloß sich uns ein Neuankömmling an: ein Junge von kaum mehr als siebzehn Jahren, zehn Jahre jünger als ich, aber über sein Alter
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