Das philosophische Denken im Mittelalter
subjektiven Ausgangspunkt scharf markiert. Ich möchte drei kurze Thesen formulieren, die ich anderswo 3 ausführlich begründet habe:
Erstens: Ich stelle die Philosophie des Mittelalters nicht mit der Absicht vor, mein Leser sollte in ihr seine intellektuelle Heimat finden. Auch die heftigste Kritik an der Gegenwart reicht nicht aus, einen solchen Fluchtversuch zu begründen. Gerade indem wir uns ein Rückkehren versagen, gewinnt das Mittelalter an historischem und zugleich an philosophischem Interesse. Für die intellektuelle Orientierung in der Gegenwart könnte es sich als nützlich erweisen, die Funktion der Philosophie in einem untergegangenen, aber fortwirkenden Zeitraum zu analysieren. Im Anschluss wird man das Verhältnis von Theorie, Natur und Gesellschaft anders sehen können. Probleme der Metaphysik und der Religionsphilosophie treten in ein neues Licht, wenn man die mittelalterliche Welt kennt, der sie entsprachen. Dabei kommt es darauf an, die vermeintlich einheitliche »mittelalterliche Welt« nach Regionen, nach Zeitabschnitten und literarischem Kontext zu differenzieren. Nur dadurch könnte es gelingen, etwa Hildegard von Bingen oder Meister Eckhart vor Zudringlichkeiten und Verwertungsabsichten zu bewahren.
Zweitens: Zionswächter rufen mir regelmäßig zu, die mittelalterlichen Autoren seien Theologen gewesen und ich, sagen sie, würde ihnen Gewalt antun, indem ich sie als Philosophen behandle. Es stört sie in ihrem frommen Eifer nicht, dass ich eingehend nachgewiesen habe, dass zum Beispiel Nikolaus von Kues unter »Theologie« eine philosophische Operation angebbaren Typs, nämlich eine platonisierende Ideentheorie verstanden hat. So sehr sind sie von der Immergültigkeit ihrer Haustheologie überzeugt, dass sie übersehen, dass Boethius und eine mächtige mittelalterliche Tradition die theologia der obersten, abstraktesten Erkenntnisstufe zugeordnet haben. Diese ältere Art von theologia hat nichts mit Hören, nichts mit Gehorchen und Erinnern zu tun; sie ist der denkende Aufstieg zur Welt der reinen Formen, also philosophische Ideenlehre.
Außerdem ist hier eine Unterscheidung nötig: Ich bestreite nirgends den jüdischen, den muslimischen oder christlichen Glauben meiner Autoren. Die Frage ist nur, wie sie argumentiert haben. Ein frommer Mathematiker kann sehr wohl beten, bevor er seine Rechnungen beginnt; er kann uns versichern, er rechne zur Ehre Gottes, der rechnend die Welt begründet habe; wir werden dieses Glaubensbekenntnis respektvoll zur Kenntnis nehmen, aber seine Ergebnisse mathematisch und nicht etwa theologisch überprüfen. In einer vergleichbaren Lage ist der Historiker der mittelalterlichen Philosophie. Die Autoren, von denen er zu sprechen hat, haben vielfach ihr Denken als die Anwendung einer philosophischen Theorie auf die Daten ihres jüdischen, muslimischen oder christlichen Glaubens verstanden; ich lese sie dann als Religionsphilosophen, nicht im Sinne einer neuscholastischen oder lutherischen Theologie. Wenn sie sich »Theologen« nannten, dann ungefähr in dem Sinne, in dem Paul Tillich sich als Theologen verstand. Die anderen heutigen Theologiebegriffe wähnen sich zeitlos, sind aber vom Mittelalter sachlich wie zeitlich viel weiter entfernt als mein beweglicher, für religionsphilosophische Themen (wie Erschaffung, Trinität und Inkarnation) durchaus offener Philosophiebegriff.
Die späteren Trennungen von Theorie und Praxis, von »Scholastik« und »Mystik«, von »Philosophie«, »Theologie« und »Naturwissenschaft« lege ich dem Mittelalter nicht an. Die Trennung dieser Disziplinen ging erst aus der spätmittelalterlichen Entwicklung hervor; sie darf nicht als mittelalterliche Voraussetzung unterstellt werden.
Drittens: Zwar gab sich die mittelalterliche Philosophie vielfach als reine Theorie. Doch war sie es nach dem Bewusstsein ihrer Urheber weniger, als dies in den modernen Darstellungen der mittelalterlichen Philosophie zum Ausdruck kommt, welche die Probleme der praktischen Vernunft nicht selten vernachlässigen. Dagegen habe ich mir vorgenommen, auch die Wertungen zu beachten, die in mittelalterlichen Theoriebildungen zum Ausdruck kommen.
6. Es kam mir darauf an zu zeigen, dass die Philosophie des Mittelalters eine wirkliche Geschichte hat. Verbal wird das jeder zugestehen. Ich wollte versuchen, diese Einsicht zu realisieren. Sie bedeutet, dass die mittelalterliche Philosophie eine ähnliche Entfaltungsbreite zeigt wie die Kunst dieser Zeit: Zwischen
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