Das Prachtstück
Lerchen der Au residierte in einem kleinen, ehemaligen Ladengeschäft, das offenbar erst vor kurzem frisch renoviert worden war. Eine hübsche, mollige Mittvierzigerin war gerade dabei, Eiskaffee in hohe Gläser zu gieÃen. Zwei andere, etwas jüngere Frauen, eine braunhaarig, die andere fast so kupferrot wie Sofie, studierten gemeinsam ein Notenblatt.
»Störe ich?«, fragte Linda höflich. »Ich wollte eigentlich nur fragen, ob Sie â¦Â«
»Keineswegs! Auch einen?«
Sie nickte dankbar. »Ich bin halb am Verdursten.«
»Wohnst du hier in der Gegend?«
»Seit ein paar Wochen. Mit meiner kleinen Tochter Feli. Ich bin übrigens Linda Becker und wollte eigentlich schon länger zu Ihnen â ich meine, zu euch.«
»Du singst also auch? Professionell?« Die Braunhaarige war neugierig näher gekommen und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Jutta. Und ob ich jemals diese verdammten Noten lerne, steht noch in den Sternen.«
»Eher für den Hausgebrauch«, erklärte Linda. »Dafür aber mit groÃer Begeisterung.«
»Ich tippe auf Alt«, sagte die Rothaarige und stellte sich als Sibylle vor.
»Beinahe«, erwiderte Linda. Der lockere Ton dieser Runde kam unverkrampft und ganz natürlich. »Mezzosopran. Zumindest früher. Leider bin ich ziemlich aus der Ãbung.«
»Das war ich auch nach meiner dreimaligen Babypause«, gab Sibylle zu. »Aber man kommt schnell wieder rein. Und es macht eine Menge SpaÃ. Die Auftritte ohnehin, gleichgültig, ob auf einer groÃen Bühne oder bei einer Familienfeier. Dabei habe ich jedes Mal Lampenfieber zum Sterben. Doch vor allem die Proben. Wir treffen uns einmal die Woche. Leider wird es immer ziemlich spät.«
»Und feucht«, ergänzte Jutta.
Die drei lachten herzlich.
»Es gibt reichlich Ehemänner und Lebenspartner, die sich ganz schön darüber beschweren. Zum Glück sind fast alle unsere Lerchen inzwischen auf diesem Ohr ziemlich taub. Man könnte uns fast eine Art Emanzipationsclub in Tonleitern nennen. Nicht immer. Aber immer öfter«, kommentierte Sibylle.
Jetzt lachte auch Linda mit.
»Und was singt ihr?«, wollte sie wissen. Ihre Aufregung lieà langsam nach. Sie wünschte sich so sehr, von diesen netten Frauen an- und aufgenommen zu werden.
»Och, alles mögliche«, sagte die Rundliche, die sich selber als Gerda vorgestellt hatte. »Manche Komponisten würden ihre Werke kaum wiedererkennen, nachdem wir sie in der Mangel hatten. Im Moment vergreifen wir uns ganz massiv an den Liedern und Couplets, die früher die Comedian Harmonists interpretiert haben. Allerdings weiblich verfremdet, versteht sich. Du kennst sie?«
Keine Frage. Eher eine Feststellung. Warme braune Augen hinter einem eleganten Brillengestell sahen Linda freundlich und leicht amüsiert an.
»Klar! Tausendmal gehört. Ich liebe eigentlich alles von ihnen.«
»Na, prima!« Sie bekam ein Notenblatt in die Hand gedrückt. »Dann lass uns doch mal in den Genuss einer kleinen Kostprobe kommen!«
Linda legte endlich ihre Schüchternheit ab, stellte sich in Positur und holte tief Luft.
»Der Text steht drunter. Ich hoffe, du kannst meine Schrift lesen. Manchmal schmiere ich nämlich zum Gotterbarmen!«
Linda setzte zum zweiten Mal an. Und traf den Einstiegsakkord genau.
»Dein Kuss hat mir den Frühling gebracht,
denk an dich bei Tag und bei Nacht â¦Â«
Sie pausierte unwillkürlich. Eine andere, höhere Stimme setzte glockenhell ein. Das war ein Sopran!
»Ich fühle mehr und mehr, dass ich nur dir gehörâ â¦Â«
Gerda machte eine Handbewegung, und jetzt sangen sie alle zusammen.
»Die Liebe kommt, die Liebe geht,
solangâ ein Stern am Himmel steht â¦Â«
Sie hielten inne. Für einen Moment war es im Raum ganz still. Linda sah, wie die drei Frauen sich ansahen. SchlieÃlich begannen sie zufrieden zu lächeln.
»Wie Marlies«, sagte Sibylle. »Die leider nach Köln gezogen ist. Fast zum Verwechseln ähnlich. Findet ihr nicht?« »Und ob ich das finde! Willkommen bei den Lerchen, Linda!«, sagte Gerda. »Ich glaube, du bist genau die, die uns noch gefehlt hat.«
Sie war auf dem Sofa halb eingeschlafen, umgeben von aufgeschlagenen Kochbüchern mit Dutzenden gelber Post-it-Zetteln, als die Klingel ging. Nudel schlug ordnungsgemäà an,
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