Das Prinzip Uli Hoeneß
spurtete unentwegt und sorgte mit Konterattacken, bei denen zweimal nicht viel zum entscheidenden 3:1 gefehlt hätte, für Entlastung. Endlich hatte er die Leistung gebracht, kommentierte der »Kicker«, die seine Anhänger schon in den vergangenen Spielen von ihm erwartet hatten. Und am Ende vibrierte das Zeltdach des Olympiastadions unter dem Jubelschrei von 80.000 Zuschauern: Weltmeister! Der Jubel schwoll zum Orkan an, als Kapitän Beckenbauer die von FIFA-Präsident Sir Stanley Rous überreichte WM-Trophäe in die Höhe stemmte, und als sich die Spieler nach der offiziellen Zeremonie auf die Ehrenrunde machten, wollte der begeisterte Beifall noch immer kein Ende nehmen.
Es folgte das feucht-fröhliche Nachspiel. Hoeneß: »In der Kabine stand Sekt parat, kistenweise. Davon war bald nichts mehr übrig. Leicht selig fuhren wir zum offiziellen Bankett ins Hilton-Hotel. Ebenfalls beim Bankett: die Holländer. Wenn auch, verständlicherweise, mit ernsteren Gesichtern. Einige drückten uns, leicht verschämt, die Hand. Andere besahen sich unsere überschäumende Freude etwas nachdenklich aus einer Ecke. Langsam tauten auch sie auf, die sich im Finale als großartige Mannschaft präsentiert hatten.« Die Offiziellen des DFB, die den Frauen der Spieler die Teilnahme am Bankett untersagt hatten, tauten allerdings nicht auf. Und so wurde Uli Hoeneß’ Frau Susi, die trotz des Verbotes am Tisch der Weltmeister Platz genommen hatte, zum Ausgangspunkt eines heftigen Streits. DFB-Funktionär Deckert erschien am Tisch und bestand darauf, dass Frauen den Saal zu verlassen hätten. Laut Franz Beckenbauer entspann sich daraufhin folgender Dialog:
Uli Hoeneß (auf einige ältere Damen mit Perücken hinweisend, die an der Funktionärstafel dinierten): »Aber da sind ja auch andere Frauen.«
Deckert (die Hände flach auf den Tisch legend, wütend): »Das sind die Damen der Offiziellen, das ist etwas ganz anderes. Hier herrscht noch Zucht und Ordnung. Maßen Sie sich nicht Rechte an, die Ihnen nicht zustehen.«
Uli Hoeneß: »Halten Sie doch die Luft an.«
Damit stand Uli Hoeneß auf und verließ mit seiner Frau den Saal, Beckenbauer folgte ihm. »Mit seiner geschlossenen Gesellschaft hatte sich der DFB selbst an den Pranger gestellt«, resümierte Beckenbauer. »Gerd Müller erklärte noch in der gleichen Nacht seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Andere schlossen sich an.«
Der Vorfall zeigte, dass mit den Weltmeistern von 1974 eine neue Generation von Spielern herangewachsen war. Sie hatte sich weit entfernt von der Generation der Arbeiterkinder, die meist nur für einen angestammten Verein gegen das Leder traten und sich davon einen bescheidenen Ruhm als »local hero« sowie gewisse berufliche Privilegien versprachen. Jetzt waren es Profis, die im Zuge einer kontinuierlich ansteigenden Kommerzialisierung des Spiels ihren Wert einzuschätzen wussten, denen bewusst war, dass sie die Zuschauer in die Stadien und vor den Fernseher lockten, die Kasse klingeln ließen und die Bühne für die Funktionäre bereiteten. Fußball war nicht mehr nur in trauter Vereinstümelei betriebener Sport, sondern Teil der Unterhaltungsindustrie. Die höhere mediale Beachtung hatte die Helden des Rasens in einen Rang ähnlich den Stars der Popmusik erhoben, und demenstprechend hatte sich auch ihr Verhalten geändert.
Dieses neue Selbstbewusstsein hatte aber nicht nur mit dem gestiegenen Ansehen und Einkommen der Sportler zu tun. Über allem lag ein Hauch von »’68«. Das dokumentierte sich in den langen Haaren und dem lässigen Auftritt, im Aufbegehren gegen verknöcherte Autoritäten, das selbst den überzeugten CSU-Wählern unter den Profis nicht fremd war, sowie in einem anderen Verständnis über die Rolle der Frauen. Der Eklat im Hilton war also keineswegs nur ein zufälliges Ereignis, sondern Ausdruck eines Zeitenwandels, der aus Fußballspielern selbstbewusste Stars gemacht hatte – Stars, die in vorher noch nicht dagewesener Weise von jungen Leuten umjubelt wurden, so etwa durch die Schüler, die an ihrer Lehranstalt in Ulm ein Transparent mit dem Namen »Uli-Hoeneß-Gymnasium« entrollten.
Ein angeschlagener Weltmeister
Im Jahr 1974 standen die Bayern auf dem Höhepunkt ihrer Macht: Deutscher Meister, Europapokalsieger und – Weltmeister, denn bei der WM hatten ja mit Maier, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Breitner, Müller und Hoeneß sechs Bayern zur Stammformation gezählt. Zum Bundesliga-Auftakt gegen Offenbach im
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