Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
rollten.
»Daher mag ich auch dich jeden Tag ein wenig mehr«, scherzte ich. Im Rückspiegel sah ich, dass Ingrid vor ihrem Bungalow stand und uns hinterherwinkte.
Keine zweieinhalb Stunden später setzte ich den Blinker, und wir verließen die Bundesstraße 455 in Richtung Mainz. Wir hatten auf der Fahrt bis jetzt wenig gesprochen. Julia faltete neben mir das Blatt mit der Kopie von Ingrids Personalausweis auseinander. Ich würde sie von irgendeinem unserer nächsten Aufenthaltsorte per Post nach Mailand schicken, am besten vorab vom Faxgerät eines Hotels.
»Sie muss eine sehr schöne Frau gewesen sein«, merkte Julia an. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie sie das Passfoto auf der Kopie von Ingrids Personalausweis betrachtete.
Ich musste an einer Ampel halten und schaute ebenfalls auf die Kopie des Ausweises. Das Passfoto zeigte Ingrid als deutlich jüngere Frau. Der ernste Gesichtsausdruck passte zu ihr und verlieh ihr etwas Kühles und gleichzeitig Unnahbares.
Plötzlich fiel mir etwas auf. »Das gibt es doch nicht!«, rief ich laut aus und sah Julia verblüfft an. »Schau dir ihren Geburtsnamen an!«
»Geb. Bessler«, las Julia laut vor. Sie blickte mich mit offenem Mund an.
68
Cassel, 1717
Er lebte nun schon seit einigen Tagen in der Stadt.
Da die Ordnungshüter angewiesen waren, liederliches Gesinde und Bettler aufzugreifen und ins Zuchthaus zu verbringen, hielt er sich tagsüber in den verschiedenen Wirtshäusern auf. Abends streunte er durch die Vergnügungsviertel, jedoch fehlte es ihm am nötigen Kleingeld, um sich eine der französischen Prostituierten zu leisten. Zwar war es ihm ein ums andere Mal gelungen, nach der Sperrstunde einen betrunkenen Zechkumpanen, den er nach Hause begleitete, um den Inhalt seines Geldbeutels zu erleichtern. Doch die so erlangte Beute genügte gerade, um nicht zu verhungern und den Durst nach Bier und Wein zu löschen.
Schon am ersten Tag hatte er in der Schenke nicht lange den Gesprächen an den Nachbartischen lauschen müssen, bis ihm zu Ohren gekommen war, dass Orffyreus tatsächlich in Cassel lebte. Ein gut informierter Bote, der seinen Dienst bei Hofe verrichtete und dem er ein Bier spendierte, berichtete ihm, dass Orffyreus mit seiner Familie in der Frankfurter Straße in der Oberneustadt residierte, und zwar direkt neben dem Appartement des Prinzen. Am folgenden Tag wollte er es riskieren, dorthin zu gehen.
Durch den Überfall auf einen Kaufmann, den er in der Nacht zuvor in einer düsteren Ecke mit seinem Messer attackiert und am Bauch verletzt hatte, war er in den Besitz einer hübschen Geldsumme gelangt. Und so suchte er als Erstes einen der zahlreichen Schneider in der Tuchmachergasse auf. Dieser begegnete ihm zunächst überaus misstrauisch und behandelte ihn abschätzig. Dennoch war der Schneider bereit, das dargebotene Geld anzunehmen und ihm ein nagelneues, unauffälliges Gewand anzupassen. Beim Perückenmacher nebenan erwarb er noch eine gebrauchte Perücke, die zwar, wie sich im Laufe des Tages zeigte, voller Läuse war, aber immerhin sein verstümmeltes Ohr verdeckte.
So ausstaffiert, begab er sich in die Oberneustadt und ging die Frankfurter Straße auf und ab. Er musste nicht lange warten, bis er Orffyreus sah. Kurz vor Mittag verließ der Erfinder sein Haus und hielt eine Mietkutsche an. Nachdem er ihr ein kurzes Stück zu Fuß hinterhergeeilt war, gelang es auch ihm, eine Kalesche zu ergattern. Der unfreundliche Kutscher folgte auf sein Verlangen hin der Kutsche, in der Orffyreus saß, und stellte keine Fragen. Am Eingang zum Auepark entlohnte Orffyreus seinen Kutscher und wartete vor dem kleinen Wachhaus am Eingang. Nachdem auch er seinem Kutscher die verlangte Summe – ohne Trinkgeld – überreicht hatte, beobachtete er Orffyreus aus einiger Entfernung.
Eine junge Dame, ihrem Erscheinen nach eine Bedienstete, näherte sich von der Westseite und begrüßte Orffyreus überglücklich, während er, um Anstand bemüht, sie von sich fernzuhalten versuchte. Gemeinsam passierten beide den Parkwächter. Dieser hielt auch ihn nicht auf. Seine neuen Kleider und die Perücke, unter der es furchtbar juckte, erfüllten ihren Zweck. Im sicheren Abstand folgte er dem ungleichen Paar. Beide unterhielten sich angeregt, und irgendwann hakte die Magd sich bei Orffyreus unter, was dieser zunächst abzuwehren versuchte, dann aber duldete. Wie verdorben war diese Welt, dachte er. Sicher war es kein Geheimnis, dass der Park ein beliebter Treffpunkt für
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