Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
Marquise.
Zwei Diener traten an die Tür; und jeder von den beiden öffnete gleichzeitig einen Flügel. Das Siegel brach auseinander, und seine Stücke fielen auf den Boden. Die Marquise, der Landgraf sowie Orffyreus und Gärtner betraten zuerst den Raum, die Übrigen drängten von hinten nach.
Alle starrten auf das Rad.
97
Hier unten auf der Erde hatte sich seit den Tagen des Orffyreus viel verändert. Kaum etwas hatte drei Jahrhunderte überdauert. Vielleicht einige der Bäume um mich herum. Es war stockdunkel im Habichtswald, und ich konnte ihre Umrisse nur erahnen. Ich hatte gelesen, dass einige wenige Baumarten, wie Schwarzpappeln oder Ulmen, älter als dreihundert Jahre werden konnten. Kiefern und Eichen erreichten sogar ein Alter von bis zu eintausend Jahren, wenn sie nicht vorher von Krankheiten befallen oder vom Blitz getroffen wurden.
Eines aber um uns herum hatte die vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende weitgehend überstanden und war auch in Zukunft noch vollkommen sicher vor der Zerstörungswut der Menschen: der Sternenhimmel über mir. Orffyreus hatte nicht weit von hier entfernt auf dieselben Sterne geblickt wie ich gerade. Dreihundert Jahre bedeuteten aus Sicht des Weltalls so gut wie nichts. Blickte ein zehn Milliarden Jahre alter Stern auf die Erde hinab, so musste es ihm vorkommen, als habe eben Orffyreus von hier unten zu ihm aufgeblickt und den Bruchteil einer Sekunde später ich.
Hier mitten im Wald störten keine Lichtquellen den Blick nach oben. Alle mir bekannten Sternbilder konnte ich so deutlich erkennen wie selten zuvor. Als Kind hatte ich ein Teleskop geschenkt bekommen; zudem besuchte ich mit meinen Eltern häufig das Planetarium. Mit Sternbildern kannte ich mich daher ganz gut aus.
Ich seufzte. Scheffler und seine beiden Söhne hatten sich zum Schlafen in die Hütte verzogen. Der jüngere hatte mir zuvor eine Jeans und einen Pullover geliehen und mir dann eine kleine Öllampe sowie eine Packung Streichhölzer in die Hand gedrückt. Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen, die Lampe anzuzünden, wusch ich mich schließlich in deren Licht an der Regentonne mit eiskaltem Wasser. Danach sprühte ich mich am ganzen Körper mit dem Deo ein, das David mir gab. Nun war wenigstens der Gestank aus der Herkules-Statue vertrieben.
Die kühle Waldluft hielt mich wach. Meine Gedanken waren bei Julia, und ich überlegte, wie ich ihr helfen konnte. Ich saß auf der Veranda, die auf Stelzen ruhte; und vor mir ging es gut fünf Meter in die Tiefe. Neben mich hatte ich die Sachen gelegt, die ich aus meiner schmutzigen Hose gerettet hatte: den USB-Internetstick, der Kassenbon, auf dessen Rückseite ich die Telefonnummern aus Thors Handy geschrieben hatte, und das kleine Rad aus Holz.
Zudem lag vor mir die große Münze, die ich in der Herkules-Figur gefunden hatte. Mein Pfand. Ich hatte sie in der Regentonne gereinigt. Mit der Taschenlampe, die David mir gegeben hatte, leuchtete ich nun auf sie. Die Münze mit dem Loch in der Mitte war fast so groß wie ein Bierdeckel. Auf der einen Seite war eine Inschrift zu erkennen:
CAROLUS LANDGR:Z:H
HAT DIESES BILD MACHEN LASSEN
DURCH IOH:IACOB ANTHONI EIN GOLDSCHMID
GEBÜRTIG AUS AUGSPURG IST ANGEFANGEN ANNO 1714 /UND
FERTIG WORDEN ANNO 1717 D 30 NOV:
Ich drehte sie um. Die Rückseite war blank. Ich las den Text noch zwei weitere Male, ohne dass mir etwas Besonderes auffiel. Da die Inschrift nur aus Großbuchstaben und Zahlen bestand, kam die mir aus den Orffyreus-Büchern bekannte Verschlüsselung römischer Ziffern diesmal nicht infrage. Ich strich mit der Hand über die Scheibe. Sie schien aus Kupfer zu sein.
Ich legte sie beiseite. Viel hatte ich derzeit nicht im Austausch für Julia anzubieten. Was hatte Orffyreus der Nachwelt mit seinen dezenten Hinweisen nur mitteilen wollen? Und wie funktionierte sein Perpetuum mobile? Ich hatte das Gefühl, dass alle Fakten offen vor mir lagen, ich sie jedoch nicht richtig zusammenfügen konnte.
Nie zuvor war es so wichtig, das Geheimnis des Orffyreus zu entschlüsseln. Es ging nicht mehr nur um ein Perpetuum mobile. Jetzt ging es um ein Menschenleben. Und zwar um eines, das mir in den vergangenen Tagen unendlich wichtig geworden war.
98
Cassel, 1717
Das Rad drehte sich.
Gärtner machte zwei schnelle Schritte nach vorn und streckte den Arm in Richtung des Rades aus. »Das kann nicht sein!«, rief er ungläubig und drehte sich Hilfe suchend zu Gravesande um.
Auch der niederländische
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