Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
und er fühlte eine Trägheit, die mit einiger Sicherheit vom süßen Likör und den vielen Gläsern Wein herrührte. Schließlich konnte er nicht mehr sicher bestimmen, ob es der durch die vielen Schläge auf der Kutschfahrt malträtierte Rücken oder der Magen war, der ihm unsägliche Leibschmerzen bereitete.
Seine letzte Etappe führte Orffyreus zu einem Mann namens Christoph Semler, der in Halle wohnte und als Astronom und Pädagoge tätig war. Er bewohnte ein eher ärmliches Haus in der Stadtmitte.
Auf Orffyreus’ Klopfen hin öffnete ihm ein Mann, der sich alsbald als Semler höchstpersönlich herausstellte. Offensichtlich gab es in diesem Haus keine Bediensteten. Genau wie das Gebäude, in dem er wohnte, machte auch Semler selbst weder einen wohlhabenden noch einen gepflegten Eindruck. Seine Kleidung war schlicht, fast schon ärmlich. Er trug keine Perücke; seine langen grauen Haare bildeten einen Kranz um die kahl gewordene Mitte seines Kopfes. Zudem war er sehr mager und machte einen erschöpften Eindruck. Über hohlen Wangen ruhten zwei wässrige Augen, die, wie Orffyreus dachte, nur durch zwei dunkle Tränensäcke am Auslaufen gehindert wurden.
Überall im Hause liefen Kinder jedes Alters umher. Orffyreus’ anfänglicher Verdacht, dass er in eine Schule oder gar ein Waisenhaus hineingeraten war, bestätigte sich nicht. Der Hausherr stellte ihm die Kinder als seine Töchter und Söhne vor. Er hatte die Anfangsbuchstaben ihrer Namen aufsteigend nach dem Alphabet ausgesucht und war mittlerweile bei dem Buchstaben L für den kleinen Lorenz angelangt. Buchstabe M war nach Semlers stolzen Worten bereits unterwegs.
»Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches?«, erkundigte sich Semler schließlich neugierig und nippte an einer Tasse mit heißem Kaffee.
Es war ein Mokka von geringer Qualität, der auch noch schlecht zubereitet war. Orffyreus hatte große Not, den beinahe breiigen Inhalt seiner Tasse hinunterzuwürgen.
»Ich bin Erfinder eines Perpetuum mobile, welches ganz einwandfrei funktioniert. Indes gibt es Zweifler, Nörgler … Ich möchte sagen, Ungläubige und auch Neider. Sie bestreiten die Tadellosigkeit meiner Apparatur. Es soll nun in Merseburg ein offizieller Test derselbigen stattfinden. Auf Anregung meines geschätzten Freundes Wilhelm Gottfried Leibniz wird eine Kommission der Prüfung beiwohnen und die Funktionalität bestätigen. Hier fiel die Wahl unter vielen auf Euch – Ihr sollt Teil dieser Kommission sein.« Orffyreus sprach schnell und gewandt. Er hatte diese Sätze in den Tagen zuvor immer wieder aufgesagt und beherrschte sie auswendig.
Kaum hatte er seinen Vortrag beendet, sprang Semler auf und ruderte aufgeregt mit den Armen. Schon dachte Orffyreus, dass er einen Anfall erleiden würde.
»Ein Perpetuum mobile?«, rief Semler. »Welch ein Zufall! Ich selbst arbeite seit über fünfzehn Jahren an der Konstruktion eines solchen!«
»Ist das wahr?«, fragte Orffyreus überrascht und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als würde ihm etwas ins Gesäß zwicken. Mit einem Rivalen hatte er hier fürwahr nicht gerechnet.
»Ja, das ist wahr! Ich stehe kurz vor dem Durchbruch, jedoch ist es zugegebenermaßen noch nicht ganz fertig! Es läuft und läuft – aber eben noch nicht ganz unendlich, lediglich fast unendlich. Es fehlt nur noch so viel an Schwung!« Semler, der mit überschlagender Stimme sprach, deutete mit einer winzigen Lücke zwischen seinem gekrümmten Zeigefinger und dem darunterliegenden Daumen an, wie wenig noch nötig war, damit seine Konstruktion der Endlichkeit der Bewegung entkam.
Orffyreus verzog jedoch keine Miene.
Semler schob seinen aus Eichenholz gefertigten Stuhl ganz nahe an seinen Gast heran – so nahe, dass dieser den fauligen Atem des Gelehrten riechen konnte – und flüsterte ihm zu: »Was ist die Funktionsweise, die Ihr entdeckt habt? Wie kann es gelingen? Ihr müsst es mir anvertrauen!«
Orffyreus machte eine abwehrende Handbewegung und lehnte sich in seinem Stuhl so weit wie möglich zurück, unter anderem auch, um dem Atem seines Gegenübers auszuweichen. »Ihr werdet verstehen, dass ich dies nicht kann, obgleich ich es gern tun würde!«, erklärte er mit Bedauern in der Stimme.
Das eben noch zur neugierigen Grimasse verzogene Gesicht seines Gegenübers erstarrte. Semler sank in sich zusammen, erhob sich bedächtig, trug den Stuhl mit langsamen Bewegungen auf seinen ursprünglichen Platz und setzte sich wieder. Mit ruhiger Stimme, als
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