Das Rad der Zeit 1. Das Original
»Ich fühle, dass es irgendwie schlecht
ist.«
Rand nickte. Auch er konnte es fühlen,
auch wenn er nicht hätte sagen können, was er eigentlich genau fühlte. Das
Gefühl der Verderbtheit, das er empfand, bezog sich nicht nur auf die erste
Wärme im Freien, an die er sich dieses Jahr erinnern konnte â es war auch mehr
als die einfache Tatsache, dass es so weit im Norden nicht so warm sein dürfte.
Es musste die Fäule sein, aber die Landschaft war unverändert.
Die Sonne stieg höher, ein roter Ball,
der trotz des wolkenlosen Himmels kaum Wärme abgab. Eine kleine Weile später
knöpfte er seinen Mantel auf. Schweià lief ihm über das Gesicht.
Er war nicht der Einzige. Mat zog den
Mantel aus und stellte offen den juwelengeschmückten Dolch zur Schau. Er
wischte sich mit dem Ende seines Tuchs über das Gesicht. Zwinkernd wickelte er
sich das Tuch als schmales Band um die Stirn. Nynaeve und Egwene fächerten sich
Luft zu; sie ritten zusammengesunken, als verwelkten sie. Loial knöpfte seine
Jacke mit dem hohen Stehkragen von oben bis unten auf und auch noch sein Hemd.
Der Ogier hatte mitten auf der Brust einen schmalen Haarstreifen, so dicht wie
Fell. Er murmelte nach allen Seiten hin Entschuldigungen.
»Ihr müsst mir vergeben. Stedding Schangtai liegt in
den Bergen, und es ist dort kühl.« Seine breiten Nasenflügel bebten und sogen
Luft ein, die ständig wärmer wurde. »Ich mag diese feuchte Hitze nicht.«
Es war feucht, das bemerkte auch Rand jetzt. Er hatte ein Gefühl wie
im Sumpf mitten im Sommer, daheim in den Zwei Flüssen. In diesem mit groÃen
Lachen durchsetzten Sumpf atmete man wie durch eine mit heiÃem Wasser durchtränkte
Wolldecke. Hier gab es keinen schlammigen Boden â nur ein paar Teiche und
Bäche, Rinnsale für jemanden, der an den Wasserwald gewöhnt war â, aber die
Luft war genauso wie in jenem Sumpf. Nur Perrin, der seinen Mantel noch
anhatte, atmete frei. Perrin und der Behüter.
Man sah nun auch einige Blätter, selbst
an Bäumen, die nicht das ganze Jahr über Laub trugen. Rand streckte die Hand
aus, um einen Ast anzufassen, und hielt inne, kurz bevor er die Blätter
berührte. Das Rot des neuen Wuchses war von krankhaftem Gelb und schwarzen
Flecken durchsetzt. »Ich sagte doch, dass du nichts anfassen sollst.« Die
Stimme des Behüters klang ausdruckslos. Er trug immer noch seinen
farbverändernden Umhang, als könne ihn die Hitze genauso wenig beeindrucken wie
die Kälte. Sein kantiges Gesicht schien beinahe frei über Mandarbs Rücken zu
schweben. »In der Fäule können Blumen töten und Blätter Wunden schlagen. Es
gibt da ein kleines Ding, das man Stock nennt. Das verbirgt sich gern dort, wo
die Blätter am dichtesten stehen, und sieht so aus, wie es heiÃt. Es wartet
darauf, dass jemand es anfasst. Wenn das geschieht, beiÃt es zu. Kein Gift. Der
Saft beginnt, das Opfer des Stocks zu verdauen. Das Einzige, was dich dann
retten kann, ist, den Arm oder abzuschneiden. Aber ein Stock beiÃt nicht, wenn
er nicht berührt wird. Andere Dinge in der Fäule dagegen tun es.«
Rand riss seine Hand zurück, bevor er ein
Blatt berührt hatte, und dann wischte er sie an einem Hosenbein ab.
»Dann sind wir jetzt in der Fäule?«,
fragte Perrin. Seltsamerweise hörte er sich nicht ängstlich an.
»Nur im äuÃeren Bereich«, sagte Lan
ernst. Sein Hengst bewegte sich weiter, und er sprach nach hinten gewandt: »Die
wirkliche Fäule liegt noch vor uns. Es gibt Dinge in der Fäule, die nach dem
Gehör jagen, und einige davon könnten auch so weit nach Süden gewandert sein.
Manchmal überqueren sie die Berge des Verderbens. Viel schlimmer als die
Stöcke. Verhaltet euch leise und bleibt auf den Pferden, wenn Ihr am Leben
hängt.« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern ritt stramm weiter.
Mit jeder zurückgelegten Meile wurde der
Verfall des Landes deutlicher. Die Bäume wiesen einen immer üppigeren
Blattwuchs auf, doch sie waren fleckig, gelb und schwarz verunziert, und
Streifen lebhaften Rots zogen sich wie die Streifen bei einer Blutvergiftung
über sie hinweg. Jedes Blatt und jede Ranke schien aufgeschwemmt, als könnten
sie bei einer leichten Berührung bereits platzen. Blüten hingen in einer
Parodie von Frühling von den Bäumen und Unkräutern, kränklich, blass
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