Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
Gai’shain wurden für alle möglichen Verfehlungen bestraft, oft für Dinge, die nur wenige Feuchtländer überhaupt begreifen konnten, aber die weißen Gewänder boten einen gewissen Schutz.
»Ich bin Gai’shain der Weisen Frau Sevanna«, sagte sie im unterwürfigsten Ton, den sie zustande brachte. Zu ihrem Widerwillen musste sie feststellen, dass sie ihn sehr gut traf. »Sevanna wäre verärgert, würde ich meine Pflichten vernachlässigen, um mich zu unterhalten.« Sie versuchte noch einmal, um ihn herumzugehen, und keuchte auf, als er ihren Arm mit einer Hand ergriff, die zweimal darum gepasst und noch Platz übrig gelassen hätte.
»Sevanna hat Hunderte von Gai’shain . Eine mehr oder weniger wird sie eine oder zwei Stunden nicht vermissen.«
Der Korb fiel auf die Straße, als er sie mit der gleichen Mühelosigkeit in die Luft hob, als würde er ein Kissen hochheben. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie sich unter den Arm geklemmt. Sie wollte schreien, doch er drückte mit seiner freien Hand ihr Gesicht gegen seine Brust. Der Geruch von verschwitzter Wolle stieg ihr in die Nase. Sie konnte nur graubraune Wolle sehen. Wo waren die beiden Töchter? Töchter des Speers würden ihn das nicht tun lassen! Jeder Aiel, der dies sah, würde einschreiten! Von den Gai’shain erwartete sie keine Hilfe. Wenn sie Glück hatte, würden einer oder zwei vielleicht loslaufen, um Hilfe zu holen, aber die erste Lektion eines jeden Gai’shain bestand darin, dass selbst nur die Androhung von Gewalt dazu führte, an den Füßen aufgehängt und so lange geschlagen zu werden, bis man schrie. Zumindest die erste Lektion der Feuchtländer, Aiel wußten das: den Gai’shain war jede Art von Gewalt verboten. Egal aus welchem Grund. Was Faile nicht davon abhielt, wütend nach dem Mann zu treten. Sie hätte genauso gut gegen eine Wand treten können, so viel Eindruck machte sie damit. Er lief weiter und trug sie irgendwohin. Sie biss so hart zu, wie sie konnte, und bekam für ihre Anstrengungen nur den Mund voll kratziger schmutziger Wolle, während ihre Zähne über Muskeln glitten, die keinen Ansatzpunkt boten. Er schien aus Stein gemacht zu sein. Sie schrie, aber selbst in ihren Ohren klang der Schrei gedämpft.
Plötzlich blieb das Ungeheuer, das sie trug, stehen.
»Ich habe sie zur Gai’shain gemacht, Nadric«, sagte eine tiefe Männerstimme.
Faile spürte ein grollendes Lachen in der Brust, gegen die ihr Gesicht gedrückt wurde, bevor sie es hörte. Sie hörte nicht auf zu treten, genauso wenig wie sie aufhörte, sich zu winden oder zu schreien, aber ihr Entführer schien nichts davon zu bemerken. »Sie gehört jetzt Sevanna, Bruderloser«, sagte der große Mann – Nadric? – verächtlich. »Sevanna nimmt sich, was sie will, und ich nehme mir, was ich will. Das sind die neuen Sitten.«
»Sevanna hat sie sich genommen«, erwiderte der andere Mann ruhig, »aber ich habe sie nie Sevanna gegeben. Ich habe nie angeboten, sie gegen etwas einzutauschen. Wollt Ihr Eure Ehre preisgeben, nur weil Sevanna die ihre preisgibt?«
Eine lange Stille trat ein, die nur von Failes gedämpften Geräuschen unterbrochen wurde. Sie hörte nicht auf, sich zu wehren, sie konnte es nicht, aber sie hätte genauso gut ein Säugling in Windeln sein können.
»Sie ist nicht hübsch genug, um wegen ihr zu kämpfen«, sagte Nadric schließlich. Er klang nicht ängstlich, nicht einmal besorgt.
Er ließ Faile los, und ihre Zähne wurden so plötzlich von seinem Mantel losgerissen, dass sie glaubte, einen oder zwei verloren zu haben, aber dann landete sie mit dem Rücken auf dem Boden, und der Aufprall trieb ihr sämtliche Luft aus den Lungen und fast jeden klaren Gedanken aus dem Kopf. Als sie wieder zu genug Atem gekommen war, um sich auf die Hände stützen zu können, schritt der große Mann die Gasse entlang und hatte die Straße fast schon wieder erreicht. Es war eine Gasse, ein schmaler Lehmweg zwischen zwei Steinhäusern. Niemand hätte gesehen, was er hier tat. Zitternd spuckte sie den Geschmack nach ungewaschener Wolle und Nadrics Schweiß aus – sie bebte nicht, sie zitterte bloß! – und starrte auf seinen Rücken. Wäre sie jetzt an ihr verstecktes Messer gekommen, hätte sie auf ihn eingestochen. Nicht hübsch genug, um wegen ihr zu kämpfen, ach ja? Ein Teil von ihr wusste, dass das einfach lächerlich war, aber sie griff nach allem, das ihre Wut anfachen konnte, nur um ihre Wärme zu spüren und das Zittern zu
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