Das Rad der Zeit 13. Das Original: Mitternachtstürme (German Edition)
war, als wäre dieser Baum das Ideal gewesen, nach dessen Muster man alle anderen Bäume erschaffen hatte. In den Legenden nannte man ihn Avendesora . Der Baum des Lebens.
Auf der Seite standen die Glassäulen. Davon gab es Dutzende, vielleicht sogar Hunderte, die konzentrische Kreise bildeten. Von schmaler Statur reichten sie hoch in den Himmel. So natürlich Avendesora war, so unnatürlich waren diese Säulen. Sie waren so schmal und hoch, dass der erste Windstoß sie nach den Gesetzen der Statik hätte umwerfen müssen. Nicht, dass sie bösartig aussahen, lediglich künstlich.
Als Aviendha sie vor einigen Tagen betreten hatte, waren da Gai’shain in Weiß gewesen, die sorgfältig Blätter und Zweige aufhoben. Sobald sie sie erblickten, zogen sie sich auch schon zurück. War sie die Erste, die seit Rhuideans Verwandlung in die Glassäulen ging? Ihr Clan hatte niemanden entsandt, und sie hätte bestimmt gehört, hätte es einer der anderen getan.
Damit blieben nur die Shaido, aber sie hatten Rands Behauptungen über die Vergangenheit der Aiel nicht glauben wollen. Wären Shaido hergekommen, hätten sie vermutlich nicht ertragen können, was sie gezeigt bekamen. Sie wären zur Mitte der Säulen gegangen und nie zurückgekehrt.
Das war bei Aviendha nicht der Fall gewesen. Sie hatte überlebt. Tatsächlich hatte sie nichts Unerwartetes gesehen. Es war beinahe schon enttäuschend gewesen.
Sie seufzte, ging hinüber zum Stamm Avendesoras und schaute in das Geäst hinauf.
Einst war dieser Platz mit anderen Ter’angrealen übersät gewesen; hier hatte Rand die Zugangsschlüssel entdeckt, mit denen er Saidin gereinigt hatte. Dieser Reichtum an Ter’angrealen war verschwunden. Moiraine hatte viele Stücke für die Weiße Burg beansprucht, und die hier lebenden Aiel mussten die anderen genommen haben. Damit blieben nur der Baum, die Säulen und die drei Ringe, durch die Frauen bei ihrer ersten Reise an diesen Ort schritten, die Reise, die sie zu Lehrlingen der Weisen Frauen machte.
An einige Dinge von ihrem Gang durch diese Ringe, der ihr ihr Leben – ihre vielen potenziellen Leben – gezeigt hatte, konnte sie sich noch erinnern. Es waren nur ein paar Bruchstücke hängen geblieben. Das Wissen, dass sie Rand lieben würde, dass sie Schwesterfrauen haben würde. Das Wissen enthielt auch den Eindruck, dass sie hierher zurückkehren würde, nach Rhuidean. Das hatte sie gewusst, obwohl erst das Betreten dieses Platzes einige dieser Erinnerungen wieder zum Leben erweckt hatten.
Mit untergeschlagenen Beinen setzte sie sich zwischen zwei der riesigen Wurzeln. Die leichte Brise war beruhigend, die Luft trocken und vertraut, und der staubige Geruch des Dreifachen Landes erinnerte sie an ihre Kindheit.
Ihr Gang zwischen den Säulen war auf jeden Fall eine tief gehende Erfahrung gewesen. Sie hatte erwartet, den Ursprung der Aiel mitzuerleben, vielleicht sogar Zeuge des Tages zu werden, als sie als Volk entschieden hatten, zu den Speeren zu greifen und zu kämpfen. Sie hatte mit einer noblen Entscheidung gerechnet, wo die Ehre die vom Weg des Blattes diktierte primitive Lebensweise überkam.
Es hatte sie überrascht, wie banal und beinahe zufällig das Ereignis tatsächlich gewesen war. Keine großen Entscheidungen; nur ein Mann, der nicht zusehen wollte, wie man seine Familie ermordete. In dem Wunsch andere zu verteidigen lag Ehre, aber er war diese Entscheidung nicht mit Ehre angegangen.
Sie legte den Kopf gegen den Baumstamm. Die Aiel verdienten ihre Bestrafung im Dreifachen Land, und als Volk schuldeten sie den Aes Sedai Toh . Sie hatte alles gesehen, was sie erwartet hatte. Aber viele der Dinge, die sie zu erfahren gehofft hatte, hatten gefehlt. Aiel würden diesen Ort noch für Jahrhunderte besuchen, so wie sie es schon seit Jahrhunderten taten. Und jeder von ihnen würde etwas erfahren, das mittlerweile Allgemeingut war.
Das machte ihr sehr zu schaffen.
Sie schaute nach oben und sah den Ästen zu, wie sie sich in der Brise bewegten; ein paar Blätter lösten sich und schwebten zu ihr herunter. Eines streifte ihre Wange, bevor es auf ihrem Schultertuch liegen blieb.
Die Passage durch die Glassäulen war einfach keine Herausforderung mehr. Dieses Ter’angreal war ursprünglich eine Prüfung gewesen. Konnte sich der potenzielle Anführer den dunkelsten Geheimnissen der Aiel stellen und sie akzeptieren? Als Tochter war Aviendha an Körper und Kraft auf die Probe gestellt worden. Eine Weise Frau zu werden stellte
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