Das Rad der Zeit 13. Das Original: Mitternachtstürme (German Edition)
beobachtete sie. War das ihr Blut? Das so warm über ihre Hände floss, wie Wasser, das zu lange in der Sonne gestanden hatte?
Der Tod überraschte sie nicht. In gewisser Weise hatte sie ihn den größten Teil ihrer achtzehn Jahre erwartet.
»Verfluchte Aiel«, sagte Flern, als ihre Sicht erlosch.
Aviendhas Fuß berührte die Steinplatte auf dem Platz von Rhuidean, und sie blinzelte entsetzt. Die Sonne am Himmel hatte ihren Platz verändert. Stunden waren vergangen.
Was war geschehen? Die Vision war so real gewesen, genau wie der Blick auf die frühe Geschichte ihres Volkes. Aber sie konnte darin keinen Sinn erkennen. War sie noch weiter in ihrer Geschichte zurückgegangen? Es war wie das Zeitalter der Legenden erschienen. Die seltsamen Maschinen, die Kleidung und Waffen. Aber es war die Wüste gewesen.
Sie konnte sich genau daran erinnern, Malidra gewesen zu sein. Sie konnte sich an Jahre des Hungers erinnern, an die Nahrungssuche, an den Hass auf die Lichtmacher. An die Furcht. Sie erinnerte sich an ihren Tod. An das Entsetzen, dort in der Falle zu bluten. Das warme Blut auf ihren Händen …
Sie griff sich an den Kopf und verspürte Übelkeit. Tiefes Unbehagen erfüllte sie. Nicht wegen des Todes. Jeder erwachte aus dem Traum, und auch wenn sie das nicht willkommen heißen würde, würde sie es auch nicht fürchten. Nein, das wirklich Schreckliche an dieser Vision war der völlige Mangel an Ehre gewesen, den sie erlebt hatte. Männer für ihre Lebensmittel in der Nacht zu töten? Im Dreck nach weggeworfenem Fleisch zu wühlen? Lumpen zu tragen? Sie war mehr ein Tier als ein menschliches Wesen gewesen!
Da war es besser zu sterben. Sicherlich konnten die Aiel unmöglich solchen Wurzeln entstammen. Die Aiel im Zeitalter der Legenden waren friedliche Diener gewesen, die man geachtet hatte. Wie hätten sie als Müllsammler anfangen können?
Vielleicht war das ja nur eine winzige Gruppe von Aiel gewesen. Oder der Mann hatte sich geirrt. An einer einzigen Vision ließ sich das nicht mit Sicherheit feststellen. Warum hatte man sie ihr gezeigt?
Zögernd entfernte sie sich einen Schritt von den Glassäulen, und nichts passierte. Verstört verließ sie den Platz.
Dann verlangsamte sie ihre Schritte, drehte sich noch einmal um. Die Säulen erhoben sich stumm und allein im schwindenden Licht und schienen mit einer unsichtbaren Energie zu summen.
Gab es da noch mehr?
Diese eine Vision schien so gar nichts mit den anderen zu tun zu haben, die sie erlebt hatte. Wenn sie sich wieder unter die Säulen wagte, würde sich dann wiederholen, was man ihr zuvor gezeigt hatte? Oder … hatte sie womöglich mit ihrem Talent etwas verändert?
In den Jahrhunderten seit der Gründung von Rhuidean hatten diese Säulen den Aiel gezeigt, was sie über sich wissen mussten . Dafür hatten die Aes Sedai gesorgt, nicht wahr? Oder hatten sie das Ter’angreal einfach dort aufgebaut und ihm erlaubt zu tun, was es wollte, in dem Wissen, dass es für Weisheit sorgen würde?
Aviendha lauschte dem Rascheln der Blätter. Diese Säulen waren eine Herausforderung, und zwar so sicher wie ein feindlicher Krieger mit dem Speer in der Hand. Wenn sie sich erneut zwischen sie begab, kam sie womöglich nie wieder heraus; niemand besuchte dieses Ter’angreal ein zweites Mal. Das war verboten. Ein Gang durch die Ringe, einer durch die Säulen.
Aber sie war gekommen, um Wissen zu finden. Und sie würde nicht ohne dieses Wissen gehen. Sie holte tief Luft und trat an die Säulen heran.
Dann machte sie den nächsten Schritt.
Sie war Norlesh. Sie drückte ihr jüngstes Kind an die Brust. Ein trockener Wind zupfte an ihrem Schultertuch. Garlvan, der Säugling, fing an zu wimmern, aber sie beruhigte ihn, während ihr Ehemann mit den Außenweltlern sprach.
In der Nähe erhob sich ein Dorf der Außenweltler, eine Reihe Hütten am Fuß der Berge. Sie trugen gefärbte Kleidung und seltsam geschnittene Hosen mit Hemden, die man zuknöpfte. Sie waren für das Erz gekommen. Wie konnten Steine nur so wertvoll sein, dass sie auf dieser Seite der Berge lebten, weit fort von ihrem sagenhaften Land voller Wasser und Nahrung? Fort von ihren Häusern, in denen Licht ohne Kerzen brannte und ihre Karren ohne Pferde fuhren?
Ihr Schultertuch rutschte, und sie zog es hoch. Sie brauchte ein neues; das hier war sehr fadenscheinig, und sie hatte kein Garn mehr, um es zu flicken. Garlvan wimmerte auf ihrem Arm, und ihr einziges ebenfalls überlebendes Kind – Meise –
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