Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
den Großen Herrn zu verstehen. Man musste ihm lediglich gehorchen. »Soweit Ihr sie an mich weitergegeben habt. Falls Ihr mir etwas verschweigt …«
Graendals Blick verhärtete sich zu blauem Eis. Sie mochte ja am liebsten Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen, doch Drohungen konnte sie für den Tod nicht leiden. Im nächsten Moment lächelte sie jedoch schon wieder töricht. So wetterwendisch wie der Himmel über M’jinn. »Was Demandred mir über die Befehle des Großen Herrn berichtete, habe ich an Euch weitergegeben, Sammael. Jedes einzelne Wort. Ich bezweifle, dass selbst er es wagen würde, im Namen des Großen Herrn zu lügen.«
»Aber Ihr habt mir verdammt wenig darüber berichtet, was er eigentlich zu unternehmen gedenkt«, sagte Sammael leise, »sowohl er wie Semirhage oder Mesaana. Praktisch gar nichts.«
»Ich habe Euch gesagt, was ich weiß.« Sie seufzte gereizt. Vielleicht sagte sie ja die Wahrheit. Sie schien es zu bedauern, dass sie selbst nicht mehr erfahren hatte. Vielleicht. Bei ihr konnte alles aber auch nur erlogen sein. »Was den Rest betrifft … Erinnert Euch, Sammael. Wir haben untereinander genauso energisch intrigiert, wie wir Lews Therin bekämpften, und doch hatten wir diesen Kampf beinahe schon gewonnen, bis er uns alle zusammen am Shayol Ghul erwischt hat.« Sie schauderte, und einen Augenblick lang wirkte ihr Gesicht ausgezehrt. Auch Sammael wollte lieber nicht an diesen Tag zurückdenken oder an das, was danach folgte: ein traumloser Schlaf, währenddessen sich die Welt jenseits allen Wiedererkennens veränderte und alles verschwand, was er geschaffen hatte. »Nun sind wir in einer Welt erwacht, wo wir so hoch über den gewöhnlichen Sterblichen stehen, dass wir beinahe eine andere, überlegene Rasse sein könnten – und wir sterben einer nach dem anderen. Vergesst einmal für den Augenblick die Frage, wer Nae’blis werden wird. Al’Thor – wenn Ihr ihn schon bei diesem Namen nennen müsst – al’Thor war so hilflos wie ein Neugeborenes, als wir erwachten.«
»Ishamael hat ihn aber nicht für so hilflos gehalten«, sagte er. Aber natürlich war Ishamael damals bereits wahnsinnig gewesen. Sie fuhr fort, als habe sie seinen Einwand nicht vernommen: »Wir verhalten uns, als sei dies die Welt, die wir kennen, obwohl in Wirklichkeit nichts mehr so ist wie damals. Wir sterben einer nach dem anderen, und al’Thor wird immer stärker. Länder und Völker sammeln sich unter seiner Führung. Und wir sterben. Die Unsterblichkeit ist mein. Ich will nicht doch noch sterben.«
»Wenn Ihr Euch vor ihm fürchtet, dann tötet ihn doch.« Bevor die Worte noch ganz ausgesprochen waren, hätte er sie am liebsten zurückgerufen.
Ungläubigkeit und Verachtung verzerrten Graendals Gesicht. »Ich diene dem Großen Herrn und gehorche, Sammael.«
»So wie ich. So wie wir alle.«
»Wie großherzig von Euch, es über Euch zu bringen, vor unserem Herrn niederzuknien.« Ihre Stimme klang genauso eisig, wie ihr Lächeln wirkte, und sein Gesicht lief dunkel an. »Alles, was ich damit sagen will, ist: Lews Therin ist heutzutage genauso gefährlich wie damals in unserer Zeit. Ihn fürchten? Ja, ich fürchte ihn. Ich habe vor, für alle Ewigkeit weiterzuleben, anstatt Rahvins Schicksal zu teilen!«
»Tsag!« Diese obszöne Bezeichnung brachte sie endlich dazu, die Augen aufzureißen und ihn richtig anzusehen. »Al’Thor – al’Thor, Graendal! Ein ignoranter Junge, was Asmodean ihm auch beibringen mag! Ein primitiver Kerl, der vermutlich immer noch glaubt, neun Zehntel von dem, was Ihr und ich als selbstverständlich betrachten, sei in Wirklichkeit unmöglich! Al’Thor bringt ein paar Lords dazu, dass sie vor ihm das Knie beugen, und er glaubt, er habe ein ganzes Land erobert. Er hat gar nicht die Willensstärke, die Faust zu schließen und sie wirklich zu unterwerfen. Nur die Aiel – Bajad drovja! Wer hätte gedacht, dass sie sich so ändern würden?« Er musste sich beherrschen; sonst fluchte er nie auf diese Weise; das war eine Schwäche. »Nur sie gehorchen ihm wirklich, und nicht einmal alle von ihnen. Er hängt an einem seidenen Faden, und er wird stürzen, entweder so oder so.«
»Tatsächlich? Und was ist, wenn er …?« Sie hielt inne und hob ihren Kelch so schnell an den Mund, dass Wein auf ihren Unterarm spritzte. Dann kippte sie das Getränk so hastig hinunter, bis der Kelch fast leer war. Die elegante Dienerin kam mit ihrer Kristallkanne herbeigeeilt. Graendal hielt ihr den
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