Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
alles anders. Alles erschien ihm verdreht, die Farben … stimmten irgendwie nicht, als sei etwas mit seinen Augen nicht in Ordnung. Die Schoflügelflitzer kamen ins Taumeln und stürzten ab, wobei jeder Hunderte von Menschen dem Tod entgegentrug. Gebäude zersplitterten wie Glas, Städte brannten, das Land bäumte sich auf wie ein sturmgepeitschter Ozean. Und immer wieder fand er sich einer schönen Frau mit goldenen Haaren gegenüber und sah zu, wie sich die Liebe auf ihrer Miene in blanke Angst wandelte. Ein Teil von ihm kannte sie. Ein Teil von ihm wollte sie retten, vor dem Dunklen König, vor allem, was sie in Gefahr brachte, vor dem, was er selbst gleich tun würde. So viele Teile in ihm, ein Verstand, der in glitzernde Scherben zerfiel, und alle Scherben schrien.
Er erwachte schwitzend und zitternd im Dunklen. Lews Therins Träume. Das war bisher noch nie geschehen, dass ihn die Träume des Mannes heimgesucht hatten. Er lag die wenigen Stunden über, die noch bis zum Sonnenaufgang blieben, wach im Bett, starrte ins Leere und fürchtete sich davor, die Augen zu schließen. Er hielt an Saidin fest, als könne er es benützen, um gegen einen toten Mann anzukämpfen, aber Lews Therin blieb stumm.
Als sich schließlich der Himmel hinter den Fenstern blass verfärbte, schlüpfte ein Gai’shain leise mit einem zugedeckten Silbertablett ins Zimmer. Als er sah, dass Rand wach war, sagte er nichts, verbeugte sich aber und ging dann genauso leise hinaus. Durch die Macht, die ihn erfüllte, roch Rand den gewürzten Wein und das warme Brot, Butter und Honig und den heißen Haferbrei, den die Aiel morgens aßen, als stecke seine Nase im Tablett. Er ließ die Quelle los, zog sich an und gürtete sein Schwert. Er rührte das Tuch nicht an, mit dem die Speisen zugedeckt waren, denn er hatte keinen Appetit. So nahm er das Drachenszepter in die Armbeuge und verließ seine Gemächer.
Die Töchter standen mit Sulin, Urien und seinen Roten Schilden in dem breiten Korridor, aber sie waren nicht allein. Hinter den Wachen drängten sich Menschen Schulter an Schulter und füllten den Gang vollständig aus. Ein paar befanden sich sogar innerhalb des Rings. Aviendha stand bei einer Abordnung von Weisen Frauen. Amys war da, und Bair und Melaine, Sorilea natürlich, Chaelin, eine Rauchendes Wasser Miagoma mit grauen Strähnen im dunkelroten Haar, und Edarra, eine Neder Shiande, die nicht viel älter wirkte als er selbst, obwohl sie bereits die gleiche unerschütterliche Ruhe in ihren blauen Augen zeigte und ebenso hoch aufgerichtet und würdevoll dastand wie die anderen. Auch Berelain war dabei, doch Rhuarc und die übrigen Clanhäuptlinge fehlten. Was er ihnen zu sagen gehabt hatte, war gesagt worden, und die Aiel zogen so etwas nicht in die Länge. Aber warum standen die Weisen Frauen hier? Oder Berelain? Das grün-weiße Kleid, das sie heute Morgen trug, gestattete einen erfreulichen Ausblick auf ihren blassen Busen.
Adlige aus Cairhien hatten sich versammelt, und zwar außerhalb des Rings der Aiel. Colavaere, die trotz ihrer mittleren Jahre ausgesprochen gut aussah. Sie hatte das dunkle Haar zu einem kunstvollen Turm aus Locken hochgesteckt, und ihr hochgeschlossenes Kleid wies von dem goldbestickten Stehkragen bis unterhalb ihrer Knie farbige Querstreifen auf. Der stämmige Dobraine mit dem kantigen Gesicht war da, die Vorderseite des überwiegend grauhaarigen Schädels kahl geschoren wie ein Soldat, und auf dem Brustteil seines Rocks sah man die abgewetzten Stellen, wo sonst die Riemen eines Brustharnisches verliefen. Maringil stand dort, kerzengerade aufgerichtet wie eine Klinge, das weiße Haar beinahe in Schulterlänge, aber er hatte den Schädel nicht rasiert, und sein dunkler Seidenrock, der die gleichen Streifen wie der Dobraines aufwies, fast hinunter bis zu den Knien, wäre für einen Hofball geeignet gewesen. Zwei Dutzend oder mehr drängten sich hinter ihnen, zumeist jüngere Männer und Frauen, von denen nur wenige diese waagrechten Streifen trugen, und bei den wenigen reichten sie kaum bis zu den Hüften. »Das Licht sei dem Lord Drache gnädig«, murmelten sie, verbeugten sich mit einer Hand über dem Herzen oder knicksten, und: »Das Licht ehrt uns mit der Anwesenheit des Lord Drache.«
Auch ein Kontingent Tairener war anwesend, Hochlords und Ladies, allerdings ohne den niedrigeren Adel, in samtenen Spitzhüten und Seidenmänteln mit Puffärmeln und eingesetzten Satinstreifen, in bunten Gewändern mit breiten
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