Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
selbstverständlich noch übertrumpfen musste, zumindest was die Übertreibungen betraf. Fionnda und Anaiyella übertrafen anschließend beide und fügten solch offenherzige Komplimente hinzu, dass er ängstlich zu Aviendha hinüberschielte. Doch diese wurde noch von den Weisen Frauen beschäftigt. Dobraine begnügte sich mit einem »Bis zur Rückkehr meines Lords Drache«, während Maraconn, Gueyam und Aracome mit wachsamen Blicken etwas Unverständliches murmelten.
Es war eine Erleichterung, all diese Leute zu verlassen und in das Reisezimmer zu gehen. Eine Überraschung erlebte er allerdings, als Melaine noch vor Aviendha mit hereinkam. Er zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Ich muss mich mit Bael über Angelegenheiten der Weisen Frauen beraten«, sagte sie ganz geschäftsmäßig, und dann warf sie Aviendha einen scharfen Blick zu, die aber eine unschuldige Miene machte. Rand war klar, dass sie etwas verbarg. Aviendha hatte von Natur aus ein ausdrucksvolles Gesicht, aber unschuldig wirkte sie niemals, und ganz gewiss nicht so unschuldig.
»Wie Ihr wünscht«, sagte er. Er vermutete, die Weisen Frauen hätten nur auf eine Gelegenheit gewartet, sie nach Caemlyn zu schicken. Wer wäre besser geeignet, dafür zu sorgen, dass Rand Bael nicht unerwünscht beeinflusste, als Baels Frau? Wie Rhuarc hatte der Mann zwei Frauen, und Mat hatte festgestellt, dass so etwas entweder ein Traum oder ein Albtraum sei, und er könne nicht entscheiden, welches von beiden.
Aviendha sah ihm genau zu, als er ein Tor zurück nach Caemlyn öffnete, geradewegs in den Großen Saal. Das tat sie für gewöhnlich, obwohl sie seine Stränge nicht wahrnehmen konnte. Einmal hatte sie selbst ein solches Tor geöffnet, aber in einem äußerst seltenen Moment des Entsetzens, und sie hatte sich nie mehr daran erinnern können, wie sie das angestellt hatte. Heute erinnerte sie der sich drehende Lichtschlitz, aus welchem Grund auch immer an das, was sich damals abgespielt hatte, und dann färbten sich ihre sonnengebräunten Wangen rot und sie blickte plötzlich betont an ihm vorbei. Da die Macht ihn erfüllte, roch er sie ganz deutlich: den Kräuterduft ihrer Seife und die Andeutung eines süßen Parfüms, das er an ihr noch nie wahrgenommen hatte. Ausnahmsweise wollte er Saidin schnell loswerden, und so war er auch der Erste, der hindurchschritt in den menschenleeren Thronsaal. Alanna schien mit voller Wucht in seinen Schädel einzubrechen. Ihre Gegenwart war so greifbar, als stehe sie direkt vor ihm. Sie hatte geweint, dachte er. Weil er fort gewesen war? Nun, sollte sie deswegen weinen. Irgendwie musste er sich von ihr befreien.
Natürlich hatten die Töchter und die Roten Schilde etwas dagegen, dass er zuerst hindurchging. Urien knurrte lediglich und schüttelte missbilligend den Kopf. Eine bleiche Sulin richtete sich auf die Zehenspitzen auf, um Nase an Nase mit Rand zu sprechen: »Der große und mächtige Car’a’carn erteilte den Far Dareis Mai den Auftrag, seine Ehre zu tragen«, zischte sie, wenn auch in leisem Flüsterton. »Sollte der mächtige Car’a’carn in einem Hinterhalt ums Leben kommen, während ihn die Töchter beschützen, haben die Far Dareis Mai all ihre Ehre verloren. Wenn das dem alles erobernden Car’a’carn gleichgültig ist, hat Enaila vielleicht doch recht. Möglicherweise ist der allmächtige Car’a’carn doch nur ein halsstarriger Junge, den man an die Hand nehmen muss, damit er nicht über den Rand einer Klippe hinausrennt, weil er nicht gucken will.«
Rands Unterkiefer verkrampfte sich. Wenn sie allein waren, knirschte er mit den Zähnen und ließ es sich gefallen, wenn solche Vorträge auch meist weniger deutlich als dieser ausfielen. Er schuldete den Töchtern einiges, aber noch nicht einmal Enaila oder Somara hatten ihn jemals in der Öffentlichkeit derart heruntergeputzt. Melaine war schon beinahe am anderen Ende des Saals. Sie hatte den Rock hochgerafft und lief fast im Laufschritt; offensichtlich konnte sie es nicht erwarten, den Einfluss der Weisen Frauen auf Bael wiederherzustellen. Er konnte nicht sagen, ob Urien zugehört hatte, obwohl ihm der Mann ein wenig zu konzentriert schien, als er seine Aethan Dor zusammen mit den Töchtern auf die Suche nach möglichen Attentätern unter die mächtigen Säulen schickte. Das hätten sie ohnehin getan, auch ohne seine Anweisungen. Aviendha hingegen, die Arme unter den Brüsten verschränkt, verzog das Gesicht in einer solch eigenartigen Mischung von
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