Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
gegenübertreten mussten; er wollte gerade die Stimme erheben, um den Burschen auszuschimpfen, hielt dann aber inne. Zweifler nahmen es mit der Disziplin nicht sehr genau, aber ein einfaches Kind würde niemals unangemessen mit einem Lordhauptmann sprechen. Vielleicht konnte das Bad noch warten.
Die Kuppel der Wahrheit war ein Wunder, das letztendlich einen Teil seines innersten Wesens wiederherstellte. Von außen reinweiß, spiegelte im Inneren Blattgold das Licht von tausend Hängelampen wieder. Dicke weiße Säulen umstanden den Raum, schlicht und glänzend poliert, aber die Kuppel selbst erstreckte sich über dem einfachen weißen Marmorpodest mitten auf dem weißen Marmorboden – wo der Lordhauptmann der Kinder des Lichts stand, um in ihren feierlichsten Momenten, bei ihren ernsthaftesten Zeremonien, zu den versammelten Kindern des Lichts zu sprechen –, hundert Schritt im Durchmesser und in fünfzig Schritt Höhe ungestützt bis zur Spitze. Eines Tages würde er dort stehen. Niall würde nicht ewig leben.
Dutzende von Kindern wanderten in dem riesigen Raum umher – es war ein sehenswerter Anblick, obwohl niemand außer den Kindern es natürlich jemals sah –, doch diese Nachricht war nicht gekommen, sodass er die Kuppel bewundern konnte. Er war sich dessen sicher. Hinter den großen Säulen verliefen Reihen kleinerer Säulen, die genauso schlicht und glatt poliert waren, und es gab hohe Nischen, in denen Szenen der Triumphe der Kinder während tausend Jahren festgehalten waren. Valda schlenderte umher und schaute in jede Nische. Schließlich sah er einen großen, bereits ergrauten Mann eines der Gemälde betrachten: Serenia Latar, die am Galgen geendet war, die einzige Amyrlin, die die Kinder jemals hatten hängen können. Sie war natürlich bereits tot gewesen, da lebende Hexen schwer gehängt werden können, aber das war unwichtig. Vor hundertdreiundneunzig Jahren war Gerechtigkeit dem Gesetz entsprechend vollzogen worden.
»Seid Ihr besorgt, mein Sohn?« Die Stimme klang sanft, fast milde.
Valda versteifte sich kaum merklich. Rhadam Asunawa war vielleicht der Hochinquisitor, aber er war auch immer noch ein Zweifler. Und Valda war ein Lordhauptmann, Gesalbter des Lichts, nicht ›mein Sohn‹. »Nicht, dass ich wüsste«, sagte er tonlos.
Asunawa seufzte. Sein hageres Gesicht war ein Bild gequälten Leidens, sodass man seinen Schweiß vielleicht auch für Tränen hätte halten können, aber seine tief liegenden Augen schienen von der Hitze zu brennen, die alles überflüssige Fleisch fortgebrannt hatte. Sein Umhang wies nur den Hirtenstab auf, keine flammende goldene Sonne, als stünde er außerhalb der Kinder. Oder vielleicht darüber. »Es herrschen besorgniserregende Zeiten. Die Festung des Lichts beherbergt eine Hexe.«
Valda versagte sich gerade noch einen schiefen Blick. Ob sie nun Feiglinge waren oder nicht – Zweifler konnten auch einem Lordhauptmann gefährlich werden. Der Mann könnte vielleicht niemals eine Amyrlin hängen, aber er träumte wahrscheinlich davon, der Erste zu sein, der eine Königin hängte. Valda kümmerte es nicht, ob Morgase starb, vorausgesetzt es geschah nicht, bevor sie ihren Zweck erfüllt hatte. Er schwieg, und Asunawa zog seine dichten grauen Augenbrauen hoch, bis er aus den Augenhöhlen zu spähen schien.
»Es herrschen besorgniserregende Zeiten«, wiederholte er, »und Niall sollte nicht erlaubt werden, die Kinder des Lichts zu vernichten.«
Valda betrachtete einige Minuten lang das Gemälde. Vielleicht war der Künstler ein guter Maler gewesen, vielleicht aber auch nicht. Er wusste nichts von solchen Dingen, und sie kümmerten ihn auch nicht. Der Bursche trug jedoch die Waffen und Rüstung der Wachen, und sie wirkten echt. Von diesen Dingen verstand er etwas. »Ich bin bereit zuzuhören«, sagte er schließlich.
»Dann werden wir miteinander sprechen, mein Sohn. Später, wenn nur noch wenige Augen zusehen und wenige Ohren zuhören werden. Das Licht erleuchte dich, mein Sohn.« Asunawa schritt ohne ein weiteres Wort davon. Sein weißer Umhang bauschte sich leicht, und das Geräusch seiner Stiefel hallte wider, als versuche er, jeden Schritt in den Stein hineinzutreiben. Einige der Kinder verbeugten sich, als er vorüberging.
Niall beobachtete aus einem schmalen Fenster hoch über dem Hof, wie Valda abstieg, mit dem jungen Bornhald sprach und dann zornig davonschritt. Valda war stets zornig. Hätte eine Möglichkeit bestanden, die Kinder von Tar Valon nach
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