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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Morse Mrs. Gilbert verlassen hatte, stand ein Mann vor der Tür der Wohnung im siebten Stock des Berrywood Court. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf, warf drinnen achtlos seine Jacke über die Garderobe und ging ins Wohnzimmer.
    Zwei Minuten später telefonierte ein völlig fassungsloser Albert Gilbert mit dem langjährigen Hausarzt der Familie: Er sei gerade heimgekehrt, und als er ins Wohnzimmer gegangen sei, um seine Frau zu begrüßen, sei diese bei seinem Anblick ohne erkennbaren Grund ohnmächtig zusammengesunken. Er wisse nicht, was er tun solle; zwar sei sie inzwischen wieder zu sich gekommen, aber sie scheine immer noch verwirrt, sie sehe ihn an, als sei er ein Gespenst.

    Neunundzwanzigstes Kapitel
    Dienstag, 29.Juli

In jedem Menschen, und sei er auch ein noch so großer Realist, wohnen unerfüllte Sehnsüchte, die ihn, wenn die Umstände danach sind, zu höchst irrationalen Hoffnungen verleiten können.

    Die Colebourne Road lag nicht mehr als fünf Minuten Fußweg von der U-Bahnstation East Putney entfernt. Aber Morse hatte es plötzlich nicht mehr besonders eilig. An der Ecke Colebourne Road blieb er unter dem Straßenschild stehen, um etwas Abstand zu seinen Gefühlen zu gewinnen. Nicht einmal ein so unverbesserlicher Romantiker wie er konnte sich doch im Ernst der Hoffnung hingeben, nach dreißig Jahren unversehens jene Frau wiederzufinden, die er damals geliebt und die er nie vergessen hatte. Nein, versuchte er sich zu sagen, eine solche Hoffnung sei illusorisch, und nur ein Narr... Aber genau das war er vielleicht. Wenige Schritte die Straße hinauf befand sich ein Pub mit dem Namen Richmond Arms, und er beschloß, noch einen doppelten Scotch zu trinken, bevor er zu ihr ging — die Begegnung würde so oder so schwierig für ihn werden. Er suchte sich einen ruhigen Tisch in der hintersten Ecke, und plötzlich kam ihm die Erinnerung an einen ähnlich gefühlsschweren Abend wie den heutigen. Er war damals nach langer Zeit wieder einmal zu Besuch bei seiner alten Mutter. Und anjenem Abend hatte er sich fortgestohlen, um den Gottesdienst in der Methodistenkirche nicht zu versäumen, getrieben von der unsinnigen Hoffnung, an dem gewohnten Platz auf der Chorempore wieder das Mädchen stehen und ihm Zulächeln zu sehen, das seine erstejugendliebe gewesen war. Aber natürlich hatte sie nicht dort gestanden... Morse ging an die Theke und bestellte sich noch einen zweiten Whisky. Auch heute abend würde er wieder eine Enttäuschung erleben, dessen war er sich fast sicher. Es wäre ein zu großer Zufall, wenn jene Frau mit den Initialen W. S. ausgerechnet seine Wendy Spencer wäre. Und doch, Götter, wenn es euch gibt, so macht, daß sie es ist!
    Schließlich brach er auf. Es hatte keinen Sinn, die Begegnung noch weiter aufzuschieben. An der Tür des Hauses mit der Nummer 23 zögerte er einen Moment, dann klingelte er. Er spürte, wie sein Herz klopfte. Sowohl in den oberen beiden Stockwerken als auch unten brannte Licht, er würde sie also wohl antreffen.
    «Ja, bitte?» Eine dunkelhäutige junge Frau öffnete ihm die Tür.
    «Ich bin von der Polizei, Miss...»
    «Mrs. — Mrs. Price.»
    «Es ist so... Ich suche eine Frau, von der ich weiß, daß sie hier wohnen muß. Ich kenne allerdings ihren Nachnamen nicht...»
    «Dann kann ich Ihnen wohl kaum helfen.»
    «Ich glaube, sie nennt sich manchmal Yvonne .»
    «Eine Frau namens Yvonne gibt es hier nicht», sagte sie kurz angebunden.
    Sie wollte die Tür schon wieder schließen, als plötzlich neben ihr eine andere Frau auftauchte: «Vielleicht kann ich ja helfen...» Sie war hochgewachsen und trug einen weißen Bademantel. Offenbar hatte sie gerade gebadet, denn ihre Haut war noch gerötet, die blonden Haare noch feucht.
    «Er ist von der Polizei und behauptet, hier wohne eine Yvonne», sagte Mrs. Price aggressiv.
    «Den Nachnamen wissen Sie nicht?» fragte die Frau im Bademantel.
    Morse blickte sie an und spürte, wie ihm die Enttäuschung beinahe die Luft abschnürte. «Nein», sagte er gepreßt, «ihr Nachname ist uns nicht bekannt. Aber ich weiß, daß sie hier wohnt — oder jedenfalls vor kurzem noch hier gewohnt hat.»
    «Aber ich habe Ihnen doch gerade gesagt...» begann Mrs. Price erregt.
    Doch die Frau im Bademantel unterbrach sie: «Laß nur, Angela, ich glaube, ich kann dem Inspector vielleicht Auskunft geben.» Und zu Morse gewandt: «Wollen Sie nicht hereinkommen?»
    Während sie vor ihm die enge Treppe hinaufstieg, musterte er

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