Das Rätsel der dritten Meile
Teil ihrer selbst wünschte sie, genauso instinktiv, wie sie ihn sich vorher zurückgewünscht hatte, daß sie ihn nie wieder zu Gesicht bekäme, nie wieder; denn wenn irgend jemand jemals die Wahrheit herausfinden würde — dann er.
Gegen drei Uhr stand sie auf und holte sich aus dem Badezimmer eine Schlaftablette.
Um vier Uhr war sie immer noch nicht eingeschlafen. Plötzlich zitternd, zog sie die Decke enger um sich. Die Nacht erschien ihr auf einmal kalt und feindlich.
Dreißigstes Kapitel
Mittwoch, 30.Juli
Morse gelangt durch die Lehre von der zweiten Meile zur Erkenntnis und wird vor seinen Chef zitiert.
Während er sich behaglich in die Polster des Erste-Klasseabteils im D-Zug 125 (Abfahrt Paddington 10.00 Uhr) zurücklehnte, spürte Morse in sich noch den Rest jenes euphorischen Gefühls, das er gestern nacht plötzlich empfunden hatte, als ihm klargeworden war, daß der Vorhang des Tempels zerrissen war und er der Wahrheit Auge in Auge gegenüberstand.
Er hatte den letzten Zug gestern nicht mehr erreicht und Schwierigkeiten gehabt, zu so später Stunde noch ein Hotelzimmer zu finden, war aber schließlich doch noch im obersten Stock einer billigen kleinen Pension untergekommen. Nicht anders als Winifred Stewart hatte auch er schlaflos gelegen, wenn auch aus anderen Gründen. Zum einen, weil er in Gedanken noch bei ihr war, zum andern, weil er das sichere Gefühl hatte, nicht mehr weit von der Lösung des Falles entfernt zu sein. Und so hatte er sich wieder und wieder die Fakten vor Augen geführt — die alten und die neuen.
So sehr viel Neues hatte er heute allerdings nicht gehört, weder von Mrs. Gilbert noch von Winifred Stewart. Immerhin jedoch hatte letztere ihm bestätigt, was er zwar vermutet, aber eben nicht gewußt hatte: daß es außer Browne-Smith noch einen zweiten Mann gegeben hatte, den sie auf Gilberts Wunsch hin «betreut» hatte. Darüber hinaus hatte er noch einige andere Dinge von ihr erfahren, nichts besonders Wichtiges, aber Kleinigkeiten, die ihm halfen, sich ein genaueres Bild zu machen. So hatte sie ihm erzählt, daß damals vor vierzig Jahren, als Emily noch ein junges und sehr hübsches Mädchen gewesen sei, sowohl Alfred als auch Albert sich um sie bemüht hätten. Beide Brüder seien sich zwar äußerlich wohl zum Verwechseln ähnlich gewesen — das gelte übrigens, wenn auch mit Einschränkungen, noch heute — vom Wesen her jedoch sehr verschieden. Alfred sei wohl damals schon der Interessantere von beiden gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil er klassische Musik sehr liebte. (Wenn beide, wie sie das im Sommer häufiger zu tun pflegten, nach Salzburg zu den Festspielen reisten, dann ging Alfred in den Don Giovanni, Albert zum Platzkonzert.) Offenbar sei Alfreds Fähigkeit zu einem fesselnden Gespräch für Emily jedoch nicht ausschlaggebend gewesen; denn sie habe sich letzten Endes für Albert entschieden. So ganz unverständlich sei es ihr, Winifred, allerdings nun auch wieder nicht — Albert sei zwar ein grober Klotz, aber dafür wesentlich lebendiger und lebenslustiger als Alfred... Morse hatte ihr zugehört und manches ganz aufschlußreich gefunden, am aufschlußreichsten aber die Tatsache, daß sie beim Erzählen eine gewisse nervöse Unruhe nicht völlig hatte verbergen können. Und zwar nicht, wie er zu wissen glaubte, weil das, was sie ihm mitteilte, die Unwahrheit gewesen wäre, sondern — weil es nicht alles war.
An diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen, war er plötzlich im Bett hochgefahren, hatte die Nachttischlampe angeknipst und nach der Bibel gegriffen, die er vorhin beim Ausziehen dort hatte liegen sehen. Mit zitternden Händen hatte er die Seiten durchblättert, bis er die Stelle gefunden hatte: Matthäus 5, Vers 41. «Und so dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei.» Er erinnerte sich, als Junge einmal einen überaus energischen walisischen Pfarrer über diese Textstelle predigen gehört zu haben und glaubte, seine donnernde Stimme noch heute im Ohr zu haben: «Die Lehre von der zweiten Meile...» Im Licht der trüben 40-Wattbirne saß er, die Bibel aufgeschlagen im Schoß auf dem Bett und lächelte glücklich wie jemand, der am Ende eines schwierigen Weges angekommen ist, der die allerletzte, die dritte Meile hinter sich gebracht hat.
Morse wußte, er war endlich bei der Wahrheit angelangt.
Aus dem Lautsprecher im Abteil kam eine Ansage: «Liebe Reisende, in zwei Minuten sind wir in Oxford. Sie haben Anschluß nach Banbury
Weitere Kostenlose Bücher