Das Rätsel der dritten Meile
als Sie, nehme ich an.» Diesmal klang ihre Stimme hart und abweisend.
«Haben Sie etwas davon, wenn Sie mit Ihren Kunden...?»
«Sie meinen, ob es mir Spaß macht, mit ihnen zu schlafen?» Sie überlegte einen Moment. «Meistens nicht — aber manchmal schon.» Sie sah in sein unglückliches Gesicht. «Ich dachte, Sie wollten eine ehrliche Antwort.»
«Nun ja...» Er lächelte gequält.
Sie stand auf und goß sich, ohne noch einmal zu fragen, ob er auch etwas wolle, einen Martini ein. «Für einen Mann Ihres Alters scheinen Sie bemerkenswert weltfremd zu sein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.»
«Da mögen Sie recht haben», sagte er ohne einen Versuch, sich zu verteidigen. Er sah auf einmal alt und müde aus, und sie dachte bei sich, daß er vermutlich einen langen, anstrengenden Tag hinter sich hatte. Sie wäre wohl mehr als erstaunt gewesen, hätte sie gewußt, daß gerade in diesem Moment, ungeachtet aller Erschöpfung, Morse’ Verstand auf Hochtouren arbeitete; denn soeben war ihm aufgegangen, daß es unter den ermittelten Fakten irgendein Detail gab, geben mußte, das entweder noch nicht zu seiner Kenntnis gelangt oder von ihm in seiner wahren Bedeutung falsch eingeschätzt worden war. Er hatte keine Ahnung, um was es sich handeln könne, nur ein ungutes Gefühl in bezug auf seine Recherchen und die instinktive Gewißheit, daß Winifred Stewart, soviel sie ihm auch noch erzählen mochte — und sie schien ja bereitwillig genug — , ihm an diesem Punkt nicht würde weiterhelfen können.
«Wann haben Sie Gilbert das letzte Mal gesehen?» fragte er.
«Ich weiß nicht mehr so genau...»
«Aber Sie haben ihn jedenfalls noch einige Male gesehen, nachdem Sie diesen, nun sagen wir, speziellen Auftrag für ihn erledigt hatten?»
Sie nickte.
«Und nach dem zweiten Auftrag auch noch?»
Sie sah ihn erschrocken an. Der Blick seiner Augen kam ihr auf einmal kalt und unbarmherzig vor. Er schien alles zu wissen, sie fühlte sich ihm ausgeliefert.
«Ja.»
«Erzählen Sie mir alles über diesen zweiten Auftrag!»
Sie sah ihn an, ohne etwas zu sagen, nahm dann ihr Glas und leerte es auf einen Zug. «Bevor ich das tue — wollen Sie mit mir schlafen?»
«Nein.»
Sie stand auf, löste den Gürtel ihres Bademantels, so daß er sich öffnete. Einen Moment lang stand sie nackt vor ihm. «Wollen Sie wirklich nicht?»
«Nein», sagte er. Es kostete ihn große Anstrengung.
«Wie Sie wollen.» Sie zog den Gürtel zusammen und machte einen festen Knoten.
Und dann erzählte sie ihm von ihrem zweiten Auftrag. (Es war mittlerweile schon bald halb neun.) Der Kunde sei ein gewisser Mr. Westerby gewesen, ebenfalls aus Oxford, wie schon der erste Mann, den Gilbert ihr geschickt habe. Morse hörte ihr aufmerksam zu und nickte dann und wann, als bestätige sie nur, was er ohnehin schon wußte. Genau das war das Problem: Was sie erzählte, war zwar durchaus interessant, aber für ihn nicht wirklich neu.
«Haben Sie nicht vorhin etwas von einem Drink gesagt?» fragte er.
Um Viertel vor zwölf, BBC 1 hatte sein Programm schon beendet, waren draußen im Hausflur leise Stimmen zu hören: Winifred Stewart verabschiedete ihren Besucher. Mrs. Price warf ihrem Mann einen bedeutungsvollen Blick zu. Hatte sie nicht immer schon gesagt, stille Wasser sind tief?
Lewis hatte den ganzen Abend über auf einen Anruf von Morse gewartet und auch selbst mehrere Male versucht, ihn zu erreichen, denn er hatte eine Neuigkeit für ihn: Im Lonsdale College war eine Ansichtskarte aus Griechenland eingetroffen. Der Absender war ein gewisser G. Westerby. Nach einem letzten vergeblichen Anruf im Präsidium ging Lewis gegen zwölf Uhr, ungefähr zur selben
Zeit, zu der Morse in der Richmond Road endlich ein Taxi gefunden hatte, enttäuscht zu Bett.
Gegen zwei Uhr lag Winifred Stewart immer noch wach. Die Nacht war schwül; Winifred hatte kein Nachthemd an und nur eine leichte Decke über sich gebreitet. Ihre Gedanken kreisten um Morse. Sie hatte das Zusammensein mit ihm genossen, und Teile ihrer selbst wünschten sich sehnlichst, er möchte zurückkehren, obwohl sie sich darüber im klaren war, daß sie dann nichts, gar nichts mehr vor ihm würde verbergen können. Von ihrem ersten, ihrem zweiten Auftrag wußte er nun, hatte wohl auch vorher schon davon gewußt oder es zumindest geahnt — zwei Drittel der Geschichte waren somit erzählt. Das letzte schreckliche Drittel allerdings... Ob er das auch ahnte oder gar kannte? Und mit einem anderen
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