Das Rätsel der dritten Meile
hinunter und tätschelte ihm die Wangen, bis er wieder zu sich kam, ließ sich dann seine Adresse geben und schickte ihn nach Hause. Sollte er sich dort erst einmal erholen. Befragen konnte man ihn immer noch, er lief ja nicht weg. Nachdem Hoskins gegangen war, wählte Morse 999 und informierte die Metropolitan Police über seine Entdeckung. Dann trat er wieder an den Wandschrank, um sich den Toten noch einmal in aller Ruhe, bevor die Kollegen eintreffen würden, anzusehen. Aus der rechten Brusttasche des Jacketts lugte eine weiße Karte hervor. Morse zog sie mit spitzen Fingern heraus und steckte sie, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, mit grimmigem Lächeln ein. Ja, er hatte sich nicht geirrt, als er glaubte, in dem Toten jenen Mann wiedererkannt zu haben, dem er vor fünf Tagen in George Westerbys Räumen begegnet war: A. Gilbert, Umzugsunternehmer.
Achtundzwanzigstes Kapitel
Dienstag, 29. Juli
Morse trifft eine bemerkenswerte Frau und bekommt von ihr eine wichtige Adresse.
Die U-Bahn ratterte auf der Piccadilly-Linie gen Norden. Links saß ein sehr schwarzer Gentleman in einem überaus eleganten Nadelstreifenanzug und studierte die Financial Times, rechts eine langhaarige junge Dame mit riesigen Ohrringen, die in den Ulysses vertieft war, und in der Mitte zwischen beiden saß Morse, spielte ungeduldig mit der weißen Visitenkarte in seiner Tasche und zählte die Stationen bis zum Ziel.
Es schien ihm, als würde die Fahrt überhaupt kein Ende nehmen, aber das mochte daran liegen, daß er zu unruhig war, um sich durch konzentriertes Nachdenken abzulenken. Das hing vermutlich damit zusammen, daß die Begegnung mit seinen Kollegen von der Metropolitan Police nicht eben freundlich verlaufen war. Und sie hatten ja nicht einmal so unrecht, wenn sie über ihn erbost waren. Erstens hatte er einen wichtigen (außer ihm selbst den einzigen) Zeugen nach Hause geschickt, ohne ihnen die Gelegenheit zu geben, ihm auch nur eine einzige Frage zu stellen; und dies war, wie der Sergeant der Mordkommission ihm völlig zu Recht vorgehalten hatte, gegen alle Vorschriften — egal ob der Zeuge durch den Anblick eines Toten nun geschockt worden war oder nicht. Und seine zweite Sünde war, daß er, kaum waren die Kollegen am Tatort eingetroffen, sich verabschiedet hatte. Aber wenigstens hatte er ihnen hinterlassen, wo er in der nächsten Stunde zu erreichen sein würde; und schließlich konnte er sich später ja noch einmal bei ihnen melden, ihnen das Ganze ein bißchen erklären und sich entschuldigen...
Arsenal — noch zwei Stationen.
Die Langhaarige mit den Ohrringen warf Morse aus den Augenwinkeln einen verstohlenen Blick zu und senkte dann die Augen wieder auf ihr Buch. Bloom war wohl doch interessanter als Morse.
Finsbury Park — an der nächsten Station mußte er aussteigen.
Plötzlich fuhr Morse zusammen und saß einen Moment lang stocksteif. Der schwarze Herr im Nadelstreifenanzug hob irritiert den Blick von den rosaroten Seiten und schaute ihn mißtrauisch von der Seite an, als befürchte er, das ruckartige Sich-Aufbäumen sei nur der Anfang gewesen und weitaus schwerere Konvulsionen würden folgen.
Morse litt Höllenqualen. Das kleine runde Loch zwischen den Schulterblättern... und in der Küche der Schraubenzieher... und er, Morse, der seit Jahren regelmäßig Kurse abhielt über die korrekte Spurensicherung bei einem Mordfall, hatte diesen Schraubenzieher (die Mordwaffe!!!) angefaßt — ohne Handschuhe angefaßt und so die Fingerabdrücke des Täters verwischt und statt dessen seine eigenen hinterlassen... Er seufzte. Mit einer Erklärung und einer Entschuldigung, wie er sich das eben noch vorgestellt hatte, würde es nicht mehr getan sein... Nur ein Gedanke tröstete ihn: erkannt zu haben, daß jetzt die Zeit zu handeln war...
Manor House — endlich! Jetzt mußte er nur noch Berrywood Court finden. Doch das erwies sich als nicht weiter schwierig. Kaum stand er draußen auf der schmutzigen, von Abfällen übersäten Seven Sisters Road, erblickte er wenige Hundert Meter weiter die Straße hinunter einen häßlichen Neubaukomplex. Daß er so schnell gefunden hatte, was er suchte, nahm er als ein gutes Omen.
Mrs. Emily Gilbert, eine reizlose Frau von Anfang fünfzig mit schlecht gefärbten Haaren und nikotinbraunen Zähnen hatte Morse’ Fragen nicht viel entgegenzusetzen. Sie habe ihrem Mann von Anfang an gesagt, daß das Ganze nicht nur albern, sondern unter Umständen auch gefährlich
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