Das Rätsel der dritten Meile
herstellte? Aber auf eine Sache war er noch nicht eingegangen.
«Ist die Handschrift denn auch gefälscht?»
«Keine Ahnung», sagte Morse unbekümmert. «Wenn Sie Lust haben, können Sie ja versuchen, es herauszukriegen. Aber Sie brauchen jetzt nicht gleich loszustürzen. Mein Gespräch mit dem Superintendent wird sicherlich seine Zeit brauchen.»
«Setzen Sie sich», knurrte Strange ungnädig, nachdem er Morse mit kaum mehr als einem Kopfnicken begrüßt hatte. «Ich hatte gestern, und übrigens auch gerade eben erst wieder, einen Anruf vom Commissioner der Metropolitan Police. Wie es scheint, hat einer meiner Untergebenen in einer Londoner Wohnung einen Toten entdeckt — offenbar ermordet. Unter Verletzung der polizeilichen Vorschriften hat er dem einzigen weiteren Zeugen, wohl in der irrigen Annahme, daß es ausreichend sei, wenn dieser seine Adresse hinterlasse, erlaubt, sich vom Tatort zu entfernen. Und auch er selbst war, kaum daß die Kollegen von der Met eingetroffen waren, mehr oder weniger ohne eine Erklärung gegeben zu haben, plötzlich einfach verschwunden. Was den anderen Zeugen angeht, so war die Adresse, die er angegeben hatte, übrigens falsch. Aber das nur nebenbei. Kaum eine Stunde später taucht dieser selbe Untergebene bei einer gewissen Mrs. Emily Gilbert auf, um ihr mitzuteilen, daß sie soeben Witwe geworden sei — eine Eröffnung, die sich inzwischen als falsch herausgestellt hat. Albert Gilbert lebt nämlich. Der Untergebene — Sie, Morse! — hatte es offenbar nicht für nötig gehalten, sich von der tatsächlichen Identität des Toten zu überzeugen, bevor er der armen Frau die schreckliche Nachricht überbrachte.»
Morse nickte und schwieg.
«Ihnen ist hoffentlich klar», fuhr Strange fort, «daß das Ganze eine überaus schwerwiegende Angelegenheit ist, zu deren genauer Untersuchung es nötig sein wird, eine Kommission einzusetzen.»
«Ja, ich weiß», sagte Morse ruhig, «und ich gebe Ihnen völlig recht — es ist tatsächlich eine äußerst schwerwiegende Sache, ich fürchte allerdings, daß Ihnen noch gar nicht klar ist, wie schwerwiegend.»
Strange kannte Morse seit vielen Jahren und hatte es inzwischen fast aufgegeben, sich über die Ansichten und Methoden dieses merkwürdigen Mannes zu wundem. Etwas in Morse’ Ton ließ es ihm jetzt geraten erscheinen, seinen Zorn etwas zu mäßigen. Und vielleicht war es ja auch das beste, er hörte erst einmal, was Morse selbst zu sagen hatte.
Erst nach mehr als zwei Stunden öffnete sich die Tür von Stranges Zimmer, und der Superintendent und Morse traten heraus. Beide blickten ungewöhnlich ernst; der Super machte den Eindruck, als ob er das, was ihm eben von Morse eröffnet worden war, noch gar nicht ganz verarbeitet hatte. Die Sekretärin, die von Strange angewiesen worden war, jede Störung von ihm fernzuhalten, und in etwa wußte, um was es ging, beugte sich tiefer über ihre Schreibmaschine. Sie hatte das deutliche Gefühl, daß jeder Anschein von Interesse jetzt taktlos erscheinen mußte. Strange verabschiedete Morse mit einem Händedruck und einem gemurmelten «Danke», und ging dann wortlos in sein Zimmer zurück. Doch kurz bevor die Tür sich wieder hinter ihm schloß, entrang sich ihm ein Stöhnen. Es klang wie «Mein Gott!»
Ende der zweiten Meile
Die dritte Meile
Einunddreißigstes Kapitel
Freitag, 1. August
Einer der Protagonisten dieses makabren Falles sucht sich seiner Last zu entledigen.
Drei Tage nach den im siebenundzwanzigsten Kapitel beschriebenen Ereignissen näherte sich, hin und wieder vorsichtig um sich spähend, ein Mann dem Hinterausgang von Cambridge Way 29. Als er die Tür erreicht hatte, sah er sich ein letztes Mal um, ob er auch wirklich unbeobachtet sei. Doch weit und breit war niemand zu sehen, die Luft schien rein. Man hatte es, ganz wie er gehofft hatte, nicht für nötig gehalten, außer dem uniformierten Constable, der am Vordereingang postiert stand, noch einen zweiten Beamten zur Beobachtung des Hauses abzustellen. Der Mann zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und stahl sich dann die teppichbelegte Treppe hinauf in den ersten Stock. Ein weiterer Schlüssel verschaffte ihm Einlaß in die rechte der beiden Wohnungen. Sobald er in der Diele stand und die Tür hinter sich geschlossen hatte, schob er als erstes den Riegel vor — eine Vorsichtsmaßnahme, die er vor drei Tagen völlig vergessen hatte. Durch eine Drehung des Knopfes regulierte er die Lautstärke seines
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