Das Rätsel der dritten Meile
ganz so gut, wie er es sich gewünscht hatte.
Er überquerte die Praed Street, bog ein in die Spring Street und betrat ein kleines Hotel am unteren Ende der Straße. Die Rezeption war nicht besetzt; so ging er hinter den Tresen und holte sich seinen Schlüssel selbst. Er hatte das Zimmer Nummer 16. Vor der Tür zögerte er einen Moment. Obwohl er schon einige Tage hier war, wußte er noch immer nicht genau, wie herum er den Schlüssel ins Schloß stecken mußte. Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Der Raum dahinter war klein, jedoch sauber. Die sparsame Einrichtung war von guter Qualität. Er zog sich sein Jackett aus und legte es ordentlich zusammengefaltet auf den einzigen Stuhl, holte sich dann aus einem Nebenfach des großen Mahagonischrankes ein frisch gewaschenes Taschentuch und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. Er war froh, wieder hier zu sein. Das Zimmer war ihm in den wenigen Tagen fast zur zweiten Heimat geworden. Alles um ihn herum war ihm so vertraut, daß er glaubte, es mit geschlossenen Augen zeichnen zu können — das schmale Bett mit dem dunklen Rahmen, den kleinen Nachttisch mit der pflaumenblau eingebundenen Bibel darauf, das an manchen Stellen schon etwas abgestoßene Waschbecken und daneben das Fenster, das er während seiner ganzen Zeit hier nie geschlossen hatte, denn es ging hinaus auf die Feuerleiter. Und wer weiß, vielleicht kam doch noch der Moment, wo er einen Fluchtweg brauchen würde... Er lag schon auf dem Bett, als er feststellte, daß die Tür zu dem kleinen Bad nebenan nur angelehnt war. Das Zimmermädchen mußte vergessen haben, sie wieder zu schließen.
Nach einer Weile stellte sich, wie er gehofft hatte, jenes Gefühl von Euphorie ein, daß er seit seiner Jugend mit einer glücklich überstandenen Gefahr assoziierte. Obwohl er dieses Gefühl im Laufe seines Lebens immer wieder einmal gehabt hatte, war er doch von seiner Intensität jetzt überrascht. Ein so starkes Gefühl von Freude und Triumph hatte er nur einmal schon erlebt, damals, als er mit seiner Pfadfindergruppe den Snowdon erstiegen hatte. Den anderen schien der jäh abfallende, am Rande des Abgrunds verlaufende Weg nichts auszumachen, doch er hatte sich Schritt für Schritt überwinden müssen, überhaupt weiterzugehen. Merkwürdig, jetzt im Alter wieder an dies Gefühl aus der Jugend erinnert zu werden... Er schloß die Augen. Endlich, endlich konnte er nun vergessen...
Er war für einen Moment eingenickt, als ein leises Geräusch ihn hochfahren ließ. Er blickte in das Gesicht eines Mannes, eines Mannes, den er...
«Sie! Das kann doch nicht...»
In seiner Miene mischte sich Überraschung mit Entsetzen und wich schließlich einem Ausdruck von Panik. Er versuchte sich aufzurichten, doch eine energische Hand preßte ihn zurück aufs Kissen, und auf einmal spürte er, wie eine Schnur sich um seinen Hals zusammenzog. Er versuchte zu sprechen, doch es war nur mehr ein gequältes Gurgeln, was er hervorbrachte, dann ein Röcheln — dann war alles still. George Westerby, emeritierter Professor für Kunstgeschichte am Lonsdale College/Oxford, war tot.
Zweiunddreißigstes Kapitel
Sonnabend, 2. August
Es ist eine bei Angehörigen aller Schichten beliebte Angewohnheit, beredt Klage zu fuhren über die Unzulänglichkeiten der britischen Eisenbahn. Es sei deshalb ausdrücklich angemerkt, daß sie an dem hier geschilderten tragischen Vorfall ausnahmsweise keine Schuld trifft.
Es war kurz vor zehn Uhr, als er an die Rezeption trat. Freundlich lächelnd nahm die Hotelsekretärin seinen Schlüssel entgegen.
«Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht, Mr. Smith?»
Er nickte und lächelte ebenfalls — sein typisches, etwas schiefes Lächeln. Sie hatte ihn fast jeden Morgen, seit er sich hier einquartiert hatte, begrüßt. Manchmal hatte sie auch abends noch Dienst gehabt und seine Wünsche nach einer morgendlichen Kanne Tee und der Times entgegengenommen.
«Ich muß heute leider abreisen. Wenn Sie mir bitte meine Rechnung fertigmachen würden.»
Sie nickte und bat ihn, sich einen Moment zu gedulden. Schwer atmend ließ er sich in einem der tiefen Sessel gleich neben dem Tresen des Empfangs nieder. Seine Nacht war alles andere als angenehm gewesen. Erst gegen Morgen war er in einen leichten Schlaf gefallen, aus dem er jedoch nach kurzer Zeit schweißgebadet erwacht war. Er hatte dröhnende Kopfschmerzen gehabt, so als versuche jemand, von innen seinen Schädel aufzumeißeln. Um
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