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Das Rätsel der dritten Meile

Das Rätsel der dritten Meile

Titel: Das Rätsel der dritten Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Hörgerätes, so daß er sofort aufmerksam würde, falls sich jemand der Wohnung nähern sollte. Solchermaßen abgesichert, zog er endlich den neugekauften Schraubenzieher aus der Tasche. Einen Moment lang wog er ihn in der Hand; er war länger und auch schwerer als der, den er Gilbert in den Rücken gestoßen hatte.
    Schließlich gab er sich einen Ruck und ging ins Wohnzimmer. Doch bevor er sich dort an die Arbeit machte, warf er noch einen Blick auf die Büste Jacob Burckhardts — der Kopf auf dem Kaminsims war es gewesen, der ihn letzten Dienstag gleich alles hatte ahnen lassen...
    Nach nur wenigen Minuten war alles getan, und der Mann verließ die Wohnung so unbemerkt, wie er gekommen war. Auf der Straße winkte er sich ein Taxi herbei. Kaum hatte er im Fond Platz genommen, als sein Hörgerät plötzlich ein leises, aber durchdringendes Pfeifen von sich gab. Er sah, wie der Fahrer einen Blick in den Innenspiegel warf und ihn neugierig betrachtete. Eilig stellte er das Gerät ab. Bloß jetzt nicht auffallen! Während der Wagen sich zügig durch den Londoner Verkehr schlängelte, versuchte er sich zu entspannen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Bereute er, daß er am Dienstag die Beherrschung verloren hatte...? Nein, eigentlich nicht. Früher oder später hatte es so kommen müssen. Gilbert würde ihn nie mehr aus den Klauen gelassen und von Mal zu Mal mehr gefordert haben. Der Besitz von Geld, immer mehr Geld, schien eine Obsession bei ihm zu sein. Eine so ganz andere Besessenheit als die, die ihn selbst sein ganzes Leben lang umgetrieben hatte, dachte er — Ehrgeiz und die fast schon krankhafte Sucht nach äußerer Anerkennung.
    Der Taxifahrer drehte sich nach ihm um. «Wir sind da, Sir.»
    Warum hatte er sich zum Bahnhof Paddington fahren lassen? Warum nicht nach Euston oder Victoria Station oder Liverpool Street? Warum überhaupt zu einem Bahnhof? Vielleicht wegen der Anonymität eines solchen Ortes, die ihn hoffen ließ, daß er sich hier der grauenhaften corpora delicti, die er in einer Plastiktüte bei sich trug, unbeobachtet würde entledigen können? Die Tragetasche eng an sich gedrückt, durchschritt er die Schwingtüren des Bahnhofshotels. Drinnen wandte er sich nach rechts und folgte dem Schild mit der Aufschrift (Toiletten). Der weiß gekachelte Raum lag verlassen. Er betrat die hinterste Kabine, hob die Brille hoch und kletterte auf den Rand des Klobeckens. Auf Zehenspitzen stehend entfernte er den Deckel des Wasserkastens. Frustriert erkannte er, daß dort nicht genug Raum war. Plötzlich zuckte er zusammen und verharrte regungslos. Er war nicht mehr allein. Jemand hatte eine der Kabinen weiter vorn betreten. Es wurde Zeit, daß er wegkam; er durfte hier nicht gesehen werden. In verzweifelter Hast zog er ein flaches Päckchen aus der Tragetasche — der Größe nach hätte es zwei Frühstücksbrote enthalten können. Sein Inhalt war dick eingeschlagen in mehrere Seiten der Times und so den Augen eines möglichen Betrachters gnädig entzogen. Der Mann ließ das Päckchen behutsam in den mit Wasser gefüllten Kasten gleiten, wo es sofort auf den Boden sank.
    Den Hauptteil seiner Last noch immer mit sich herumschleppend, verließ er mit langsamen Schritten das Hotel. Draußen sah er sich ratlos um. Wohin nun? Über die Gleise hinweg sah er am Ende des Bahnsteigs ein Gerüst, ein paar lose Bretter und eine Zementmischmaschine. Vielleicht, daß es dort eine Möglichkeit gab... Beim Näherkommen entdeckte er erleichtert einen halb mit Bauschutt gefüllten Container. Er sah sich um. In einiger Entfernung fegte ein Mann in einem orangeroten Overall den Bahnsteig. Doch der hatte ihm den Rücken zugekehrt. Mit einem Stoßseufzer hob er die Plastiktasche und ließ sie über den Rand des Containers fallen, dann drehte er sich um und suchte das Weite. Er überlegte, ob er es sich erlauben durfte, im Bahnhofshotel einen Tee und vielleicht einen gebutterten Toast zu sich zu nehmen. Aber er wußte nicht, ob er sich auf sich verlassen konnte, ob ihm seine Nerven nicht doch einen Streich spielen würden. Er spürte, daß er zitterte, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Nein, es war wohl doch klüger, in die relative Geborgenheit und Sicherheit seiner Unterkunft zurückzukehren, sich dort hinzulegen und abzuwarten, bis er sich wieder beruhigt hätte. Er hoffte doch sehr, daß dies nicht allzulange dauern würde — schließlich hatte er es heute endlich hinter sich gebracht, wenn auch vielleicht nicht

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