Das Rätsel der Fatima
Angst bekam, verlor sie das Bewusstsein.
3
Maffeo Polo saß auf seinem Pferd und starrte geistesabwesend in die Ferne. Aus einem unerfindlichen Grund hatte er an diesem Tag überhaupt keine Freude an der Jagd. Da ihm keine andere Erklärung einfiel, schob er es auf die Anwesenheit seines Bruders Niccolo, der ihn und Dschinkim heute begleitete. Was allerdings nur selten geschah, denn normalerweise hatte er wichtigere Aufgaben zu erledigen und für »nutzlose Zerstreuung«, wie er sich immer ausdrückte und womit er natürlich die Jagd meinte, keine Zeit. Doch lag es wirklich an Niccolo, dass heute das Gewicht des Adlerweibchens auf seinem Arm lastete, als wäre der Vogel aus Blei gegossen? Vielleicht war es ja die Kälte. Der Winter war nicht mehr weit. Das lange Steppengras war mit silbrigweißem Reif überzogen und knirschte unter den Hufen der Pferde. Über die baumlose Steppe wehte ein eisiger Wind, der trotz des strahlend blauen Himmels nach Schnee schmeckte und wie Tausende winziger Nadeln in die Haut stach. Doch tief in seinem Inneren wusste Maffeo, dass dies alles nicht stimmte. Weder Niccolo noch die Kälte waren der Grund für Unzufriedenheit und Schwermut. Er scheute sich einfach, der Wahrheit ins Auge zu sehen – welche Wahrheit es auch immer sein mochte.
»Worauf wartest du, Maffeo?«, rief Dschinkim und riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Der Mongole lachte über das ganze Gesicht und schien die schlechte Stimmung seines Jagdgefährten nicht zu bemerken. »Wenn du es nicht bald fliegen lässt, bleibt für dein Adlerweibchen kein Wild mehr übrig!«
Maffeo blickte empor. Er musste seine Augen mit der Hand beschatten, damit die Sonne ihn nicht blendete. Und doch konnte er das Steinadlerweibchen kaum sehen, das Dschinkim vor wenigen Augenblicken aufgelassen hatte. Flog der Vogel bereits so hoch, oder lag es daran, dass die Sehkraft seiner Augen allmählich nachließ?
Maffeo seufzte. Gern wäre er einfach nur gemächlich über die sanften Hügel geritten, um den Winterduft des hohen Grases einzuatmen, anstatt in halsbrecherischem Tempo den Steinadlern und ihrer Beute hinterherzujagen. Doch Dschinkim gegenüber konnte er das kaum zugeben, er hätte es nicht verstanden. Wie denn auch. Der Mongole befand sich in der Blüte seiner Jahre, er strotzte vor Leben und vor Kraft und liebte die Falknerei ebenso wie schnelle, anstrengende Ritte über die schier endlosen Hügel der mongolischen Steppe. Die zermürbenden Gebrechen des Alters, der Wunsch nach Ruhe und die Sehnsucht nach einem wärmenden Feuer waren ihm noch fremd.
Maffeo zuckte zusammen. Nun hatte seine Unzufriedenheit und Lustlosigkeit doch einen Namen bekommen, einen hässlichen, verhängnisvollen – das Alter.
»Dschinkim hat recht«, sagte Niccolo mit glühenden Wangen. Der Bruder, der sich sonst nur mit den niedrigsten Getreidepreisen und den günstigsten Handelswegen beschäftigte, schien die Jagd mehr zu genießen als Maffeo. »Dschinkim wird dir noch die ganze Beute wegschnappen.«
Das Steinadlerweibchen schien Niccolos Worte unterstreichen zu wollen. Ungeduldig zerrte es an dem Lederband, an dem Maffeo es festhielt. Es wollte fliegen, es wollte jagen, es wollte seiner Schwester folgen, deren Schrei es trotz der Kapuze hören konnte. Allmählich wurde Maffeos Arm lahm unter dem Gewicht des großen Vogels, und seine Schulter begann zu schmerzen. Immer deutlicher spürte er die scharfen Krallen, die sich trotz des Falknerhandschuhs aus doppelt genähtem und gefüttertem Leder in seinen Unterarm gruben. Die Krallen und Schnäbel der Steinadler waren kräftig genug, um Füchse oder gar Wölfe zu reißen. Und die Falkner mussten stets auf der Hut sein, um nicht ebenfalls verletzt zu werden.
Meine Finger werden langsam steif, dachte Maffeo, als er umständlich die Kapuze losband und dabei dem spitzen Schnabel des Adlers zu nahe kam. Ich bin ein alter Mann. Ich sollte zu Hause bleiben und meine Glieder am Kohlenfeuer wärmen, anstatt auf die Jagd zu gehen.
Doch Dschinkim hatte ihn und Niccolo darum gebeten, an dieser Jagd teilzunehmen. Nur er und die beiden Brüder, keine weitere Begleitung. Und wer war er, Maffeo Polo, dass er dieses Zeichen der Freundschaft des Bruders und Thronfolgers des großen Khubilai Khans ablehnen konnte?
Er ließ die Leine los. Der Steinadler kreischte und hackte noch mal wütend nach Maffeos Hand, als wollte er seinen Herrn dafür bestrafen, dass dieser ihn so lange festgehalten hatte. Dann breitete
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