Das Rätsel der Fatima
fragte er.
»Ich weiß es nicht. Aber normal ist das nicht.«
War Dschinkim in Gefahr? Vergessen waren seine Schmerzen. Voller Angst um seinen Freund trieb Maffeo sein Pferd den Hügel hinauf. Er hatte kaum die Kuppel erreicht, als sich sein Adlerweibchen mit einem Schrei auf ihn stürzte. Geistesgegenwärtig riss Maffeo den linken Arm hoch, damit sich der Vogel dort niederlassen konnte. Trotzdem warf ihn das plötzliche Gewicht beinahe aus dem Sattel. Der Steinadler trat von einem Bein auf das andere, rieb seinen Kopf an Maffeos Falknerhandschuh und stieß Töne aus, die klangen, als hätte er Maffeo schon lange schmerzlich vermisst. Seit sie am Hof des Khubilai Khans lebten, ging Maffeo regelmäßig mit den Mongolen zur Jagd. Trotzdem war ihm so etwas in all den Jahren nicht passiert. Die Steinadler waren zwar für die Jagd abgerichtet und kehrten immer wieder zu ihrem Herrn zurück, aber sie waren nicht gezähmt. Es waren wilde Tiere, die ihrem Falkner niemals Zuneigung entgegenbrachten – höchstens in den Geschichten und Legenden aus den Anfängen der Zeit, die sich die Alten abends oder beim Nadam-Fest erzählten, wenn sie sich um die Kohlenfeuer versammelten. Was war also geschehen?
»Beim Allmächtigen!«, rief Niccolo in diesem Moment aus und bekreuzigte sich hastig. Er war kreidebleich. »Ich fürchte, Dschinkim ist tot!«
Nun sah auch Maffeo, was seinen Bruder erschreckt hatte, und ihm stockte der Atem. Vor ihnen lag ein breites, flaches Tal, und fast genau in dessen Mitte kniete Dschinkim regungslos wie eine Statue. Um ihn herum hatte sich eine Blutlache gebildet. Doch er war nicht tot – wenigstens noch nicht. Niccolos Stimme schien den Mongolen aus seiner Erstarrung zu erlösen. Langsam, als würde er aus einem furchtbaren Traum erwachen, sah er auf. Sein Gesicht war blutüberströmt.
»Maffeo!«, rief Dschinkim, und es klang, als würde eine unsichtbare Hand versuchen ihn zu erwürgen. »Maffeo!«
Maffeo gab seinem Pferd einen Tritt in die Flanken und galoppierte den Hügel hinunter. Empört kreischte der Steinadler auf, schlug mit den Flügeln und bohrte seine Krallen tief in den Arm seines Herrn, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Doch Maffeo achtete nicht darauf. Er sprang vom Pferd und verdrängte sogar die Schmerzen, die durch seine Gelenke peitschten. So schnell seine Beine und der flügelschlagende Adler es zuließen, rannte er das letzte Stück und fiel schließlich neben seinem Freund auf die Knie.
»Dschinkim!«, keuchte er. »Bist du verletzt?«
Dschinkim schüttelte den Kopf. Und im gleichen Augenblick erkannte Maffeo, dass das Blut nicht von dem Mongolen stammte. In der Blutlache schwammen braune Federn, und gleich daneben lag der grauenvoll zugerichtete Körper des Steinadlerweibchens. Voller Entsetzen starrte Maffeo das zerfetzte Bündel Federn an, das noch vor wenigen Augenblicken ein majestätischer Vogel gewesen war.
»Herr im Himmel, was…«
»Es war ein Fuchs«, sagte Dschinkim und streichelte die Überreste des Vogels, als hätte er einen geliebten Freund verloren.
»Ein Fuchs?«, rief Maffeo aus. »Aber wie ist das möglich? Wie kann ein Fuchs es mit einem Steinadler aufnehmen und ihn sogar töten?«
Dschinkim zuckte ratlos mit den Schultern. »Dieser Fuchs war eine Bestie, ein riesiges Monster mit zotteligem braunem Fell. Ich habe noch nie einen größeren Fuchs gesehen, in meinem ganzen Leben nicht. Beide Adler haben ihn mit ihren Klauen und Schnäbeln attackiert. Aber er biss zurück und kämpfte wie ein Besessener. Auch die Steinadler schienen überrascht zu sein, denn sie versuchten, sich zurückzuziehen. Doch bevor sie es schafften, gelang es dem Fuchs, mein Weibchen mit seinen Pfoten zu packen. Und was dann geschah…« Dschinkim schloss die Augen und erschauerte. »Das war kein normaler Kampf, Maffeo. Dieser Fuchs hat mein Weibchen nicht einfach getötet, er hat es regelrecht abgeschlachtet. Zuerst zerfetzte er ihm die Flügel, um seine Flucht zu verhindern. Doch mein Weibchen gab nicht auf. Vor Angst und Schmerz halb wahnsinnig, versuchte es davonzulaufen. Dabei stolperte es über seine gebrochenen, blutigen Flügel. Es fiel hin und kroch mühsam auf dem Bauch voran. Diesen Anblick werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Dein Weibchen attackierte die Bestie mit Klauen und Schnabel, ich schrie und versuchte, den Fuchs von den beiden Adlern abzulenken. Ich schoss sogar einen Pfeil ab, doch ohne Erfolg. Der Fuchs setzte dem Adler nach und biss ihm in den
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