Das Rätsel der Fatima
er seine Flügel aus. Die Federn streiften Maffeos Wange und rissen ihm beinahe die pelzgefütterte Mütze vom Kopf, als sich der große, majestätische Vogel in die Luft erhob und dorthin flog, wo er hingehörte. Hoch oben am Himmel, zwei winzige schwarze Punkte inmitten des unendlichen Blaus, trafen sich die beiden Adler. Sie umkreisten einander, stießen abwechselnd hinab, fingen ihren Sturzflug abrupt ab, um gleich darauf wieder emporzusteigen. Es sah aus, als würden sie miteinander tanzen.
Der Tanz der Freiheit, dachte Maffeo. Wehmütig sah er den beiden Adlern zu und hoffte, dass sie ihre Chance ergreifen und diesmal nicht zu ihnen zurückkehren würden. In Gedanken begleitete er den Flug der Steinadler. Er flog mit ihnen über die mongolische Steppe und die Wüste, überquerte das Gebirge, gelangte an die Küste und erreichte schließlich eine Stadt fern im Westen; eine Stadt, in der die Menschen sich in Booten fortbewegten, weil es dort mehr Kanäle als Straßen und Gassen gab. Seine geliebte Stadt…
Seit über sechs Jahren lebte er gemeinsam mit seinem Bruder Niccolo und dessen Sohn Marco am Hof des großen und allmächtigen Khubilai Khans. Einem Hof, den nichts auf dieser Welt, nicht einmal die Wohnstätte des Papstes in Rom, an Pracht und Reichtum überbieten konnte. Ihnen erging es gut. Sie waren Berater des großen Khubilai Khans und als solche überall hoch angesehen. Der Herrscher selbst behandelte sie voller Freundlichkeit. Sie wohnten im Palast des großen Khans in eigenen Wohnungen, die so geräumig waren wie die Paläste der Dogen in Venedig. Maffeo hatte Diener, die ihm das Essen zubereiteten, so wie er es liebte, und die sich ausschließlich um seine Bedürfnisse kümmerten. Es mangelte ihm an nichts, und selbst der ausgefallenste Wunsch wurde prompt erfüllt. Es war fast wie im Paradies. Doch sogar im Garten Eden hatte die Schlange gewohnt. Das höfische Leben mit seinen Heuchlern, den Schmeicheleien und Intrigen ermüdete Maffeo. Immer öfter träumte er von seiner Heimat. Und er hätte sein Leben dafür gegeben, wieder dort zu sein. Venedig – der Klang dieses Namens trieb ihm manchmal Tränen der Sehnsucht in die Augen. Vielleicht war auch das ein Zeichen seines fortschreitenden Alters, der Wunsch eines alten Mannes, sein Leben dort zu vollenden, wo es begonnen hatte.
»Sieh nur!«, rief Dschinkim in diesem Augenblick und riss dadurch Maffeo erneut aus seinen trüben Gedanken. »Die Adler haben Beute erspäht.«
Als Maffeo sich anstrengte, konnte auch er erkennen, dass die beiden Steinadler über ein und derselben Stelle kreisten und schließlich einer nach dem anderen hinabstießen. Dschinkim stieß den hohen, sirrenden Jagdschrei der mongolischen Krieger aus, trat seinem Pferd in die Flanken und galoppierte los. Er musste schnell sein, um die Steinadler zu erreichen, bevor sie die Beute mit ihren scharfen Klauen und Schnäbeln in Stücke gerissen und damit das Fell des Beutetiers wertlos und unbrauchbar gemacht hatten.
Niccolo und Maffeo folgten dem Mongolen, so schnell es ihnen möglich war. Doch für Maffeo wurde der kurze Ritt zur Qual. Jeder Schritt, jede Unebenheit, jeder Stein und jede Senke trafen seine Knochen wie gewaltige Hammerschläge, und er musste aufpassen, dass die Zügel seinen steifen Händen nicht entglitten. Wo war nur die Geschmeidigkeit geblieben, mit der er noch bis vor Kurzem auf dem Pferderücken gesessen hatte? Er warf Niccolo einen verstohlenen Blick zu. Wenn auch er unter den beginnenden Anzeichen des Alters zu leiden hatte, dann ließ er es sich nicht anmerken.
Wenn wir wieder in Shangdou sind, werde ich mich an einen der chinesischen Ärzte wenden, dachte Maffeo. Ihre Kräuter und ihre Nadeln werden mir bestimmt helfen.
Doch in Wirklichkeit machte er sich keine großen Hoffnungen. Selbst die weisesten Ärzte waren wohl kaum in der Lage, ihm seine Jugend zurückzugeben.
Sie hatten Dschinkim noch nicht eingeholt, da wusste Maffeo, dass etwas nicht stimmte. Er konnte es hören. Hinter der nächsten Hügelkuppe schrien die beiden Steinadler, als wären Dämonen oder die Geister von Untoten in sie gefahren. Ihre Schreie klangen nach Zorn, nach Todesangst und nach Qual; sie wurden begleitet von Dschinkims lauten Rufen und dem tiefen, unheilvollen Knurren eines wilden Tiers.
Schauer liefen Maffeo über den Rücken. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges gehört. Sogar Niccolo, dem jede Jagderfahrung fehlte, wurde misstrauisch.
»Was ist da vorne los?«,
Weitere Kostenlose Bücher