Das Rätsel der Fatima
verwandelt und ist davongeflogen.«
»Unsinn!«, entgegnete Niccolo. »So etwas gibt es nicht. Er muss sich hier irgendwo versteckt haben. Wahrscheinlich hast du nur nicht richtig nachgesehen.«
Niccolo ritt weiter und schaute sich unbefangen um, während Maffeos Herz bis zum Hals klopfte. In den Jahren, seit sie Venedig verlassen hatten, hatte er genug gesehen und erlebt. Wenn ein Menschenleben nicht ausreichte, um allein die Geheimnisse des Neuen Testaments zu ergründen, woher nahm Niccolo sich dann das Recht, die Mysterien in anderen Teilen der Welt als absurde Hirngespinste abzutun? Die Bibel, so wie man sie im christlichen Abendland kannte, war nur ein Teil der Wahrheit.
»Dschinkim!«, rief Niccolo plötzlich aus. »Sieh mal, dort vorne. Liegt dort nicht etwas im Gras? Etwas wie ein Bündel? Das müsste unser Fuchs sein.«
Der Mongole erhob sich aus der Hocke und sah in die Richtung, in die Niccolos Zeigefinger deutete.
»Du hast recht und unrecht zugleich«, antwortete Dschinkim. »Dort liegt tatsächlich etwas. Aber es ist nicht der Fuchs. Es scheint ein Mensch zu sein.«
»Ein Mensch?«, fragte Niccolo und starrte ungläubig in die Richtung. »Dann lasst uns nachsehen, wer es ist. Los, worauf wartet ihr noch. Vielleicht ist er verletzt und braucht unsere Hilfe.«
Niccolo ritt davon. Dschinkim und Maffeo sahen sich an.
»Verzeih mir meine Offenheit, mein Freund, aber ich fürchte, eines Tages wird dein Bruder Verderben über uns alle bringen. Er ist unvorsichtig. Nur ein Narr achtet nicht auf die Zeichen, welche die Götter uns senden.«
Maffeo nickte. »Ich weiß. Aber wir können Niccolo jetzt nicht im Stich lassen, was auch immer dort vorne im Gras auf uns lauert. Schließlich ist er mein Bruder.«
Sie folgten Niccolo langsam. Keiner von ihnen hatte es besonders eilig. Als sie näher kamen, erkannte auch Maffeo, dass Dschinkim recht hatte. Das, was aus der Ferne wie ein Bündel Fell oder ein Ballen Stoff ausgesehen hatte, das eine Karawane auf ihrem Weg durch die Steppe verloren haben mochte, war tatsächlich ein Mensch. Dschinkim glitt vom Pferd und gesellte sich zu Niccolo, der bereits eingehend den im Gras liegenden Körper betrachtete.
Es war eine Frau. Bei ihrem Anblick hielt Maffeo unwillkürlich den Atem an. Die Frau lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, die schmalen, schön geformten Hände waren über der Brust gekreuzt. Das lange blonde Haar umgab ihren Kopf wie ein schimmernder Kranz aus feinen Goldfäden. So wie sie da lag, erinnerte sie ihn an die Bilder, die in venezianischen Kirchen hingen. Bilder von Heiligen mit alabasterweißer Haut, goldfarbenem Haar und einem leuchtenden Heiligenschein um den Kopf. Allerdings trugen die Heiligen auf den Gemälden abendländische Kleidung. Das weite, mongolische Gewand mit der bunten Blumenstickerei passte nicht ins Bild. Und die geröteten Hände, die ein wenig den Händen der Waschfrauen in Khubilais Palast glichen, ebenso wenig.
»Ist sie…«
»Nein.« Dschinkim schüttelte den Kopf. »Sie atmet.«
»Wer ist sie?«, fragte Niccolo so leise, als würde er fürchten, die Fremde zu wecken.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Dschinkim zurück. »Sie hat zwar die Hände einer Wäscherin, aber sie trägt die Kleidung einer vornehmen Frau. Und sieh dir nur ihre helle Haut an. Sie arbeitet gewiss nicht auf dem Feld. Wie kommt eine Frau wie sie hier in die Steppe, und noch dazu allein?«
Maffeo schluckte. »Es gibt nur eine Erklärung. Sie ist…«
»Sie könnte eine Frau aus dem Harem des großen Khubilai Khans sein«, unterbrach Niccolo seinen Bruder. »Vielleicht wurde sie von Räubern oder Sklavenhändlern entführt. Oder sie ist geflohen.«
Dschinkim schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich bin sicher, ich hätte sie im Gefolge meines Bruders bemerkt.«
Niccolo hob spöttisch eine Augenbraue. »Wie willst du dich an eine einzelne Frau unter den Heerscharen der Geliebten des Khans erinnern? Ich vermute, dass nicht einmal der Kaiser selbst alle Frauen kennt, die seinem Harem angehören.«
»Vielleicht hast du recht, Niccolo Polo«, erwiderte Dschinkim. Maffeo ahnte, welche Anstrengung es den Mongolen kostete, ruhig und höflich zu bleiben. »Dennoch gibt es im Harem meines Bruders nicht viele Frauen aus euren Ländern. Außerdem, wie du wohl selbst bemerkt hast, erwartet sie ein Kind. Dieser Umstand bleibt dem großen Khan nie verborgen.«
»Dann ist sie vielleicht einfach ein Waschweib, das die vornehme Kleidung
Weitere Kostenlose Bücher