Das Rätsel der Hibiskus-Brosche
sie zu müde gewesen war. Es sah scheußlich, aber absolut nicht weiter aufregend aus und stank entsetzlich.
»Was ist los, Clara?«
Das Mädchen winkte ihn die Treppe herauf. »Sei so nett, Jerry, und klettere aus dem Fenster und geh an der Feuerleiter entlang bis zum nächsten!«
»Wozu?«
»Das ist Mrs. Cox’ Zimmer. Sie — sie schläft dort, und ich kann sie nicht aufwecken.«
»Donnerwetter! Ist die betrunken!«
»So darfst du nicht reden. Sie war müde und schläft sehr fest. Schlüpf gerade mal eben zum Fenster rein und mach mir die Tür auf. Sie hat irgend etwas davorgelegt, und das verbarrikadiert die Tür.«
»Aber was wird sie sagen, wenn sie aufwacht? Sie wird bestimmt wahnsinnig böse auf mich sein, daß ich meine Nase in ihr Zimmer stecke!«
»Sie wird nicht aufwachen. Sie ist ganz weg. Zieh das, was die Tür zuhält, einfach beiseite.«
»Schön, aber sag, daß du mich geschickt hast, wenn sie Krach schlägt.«
»Natürlich! Aber beeil dich, Jerry, der Kaffee wird kalt.«
Jerry erhob keine Einwendungen weiter, sondern schlüpfte schnell aus dem Fenster und rannte zum nächsten. Clara beobachtete ihn. Wäre sie doch ebenso schnell und leichtfüßig und ebenso schwindelfrei! Jetzt war er am nächsten Fenster, und sie rief ungeduldig: »Spring hinein, Jerry! Steh nicht erst lange herum und besinn dich!« Der Junge hatte nämlich mit einem Bein auf dem Fensterbrett innegehalten. Jetzt zog er es langsam zurück und wandte sich ihr mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck zu.
»Ich kann die Tür nicht aufmachen. Sie liegt davor! Sie muß furchtbar getrunken haben. Sie schläft fest, das Gesicht zur Tür gewandt.«
Clara war plötzlich zutiefst erschrocken. Vida Cox mochte ja trinken, aber von der Art war sie nicht, daß sie in einer Winternacht auf dem Fußboden zusammenbrach. Sie mußte ohnmächtig oder krank geworden sein. Sie sagte: »Na, dann komm zurück und laß mich hineingehen. Oh, ich trau mich nicht! Was ist da los, Jerry? Ich habe Angst!«
Er war ganz Mann von Welt. »Angst brauchst du nicht zu haben, Clara«, sagte er großzügig. »Sie ist bloß betrunken, blau wie ein Kerl. Aber es hat keinen Zweck, daß ich versuche, sie aufzuheben. Sie ist zu schwer. Komm her und hilf mir!«
Aber Clara war kalkweiß im Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. »Ich trau mich nicht«, sagte sie noch einmal. »Oh, ich trau mich nicht. Ich werd’ schwindlig. Wir wollen irgend jemanden anders holen. Du und ich, wir können auf keinen Fall mit ihr fertigwerden. Wir müssen jemanden Großes, Starkes holen!«
»Da kommt gerade Ben Wilkie«, sagte Jerry zuversichtlich. »Ich will auf die Straße gehen und ihn rufen. Es wird ihm nichts ausmachen, mal für eine Minute aus seinem dreckigen alten Bus auszusteigen, um uns zu helfen.« Damit stürzte Jerry die Treppen hinunter und hinaus auf die Straße. Er winkte wild mit beiden Armen, als der Bus herankam.
Ben Wilkie kannte Jerry gut und sah ihm mißtrauisch entgegen. Er hatte die Sache mit dem vertauschten Busschild noch nicht vergessen. Er schrie: »Laß deinen Unsinn, Jerry! Geh mir aus dem Wege!« Aber Jerry lief dem schweren Wagen nur noch ein Stückchen weiter entgegen, und jetzt konnte man seine Stimme trotz des Motorenlärms verstehen: »Halt, Mr. Wilkie. Halten Sie bitte an! Mit Mrs. Cox ist etwas Schlimmes passiert. Clara möchte, daß Sie ihr helfen!«
Clara, dachte Ben — das ist etwas anderes. Clara war ein gutes Mädchen. Sie hatte nicht viel vom Leben, und wie sie es fertigbrachte, mit der kupferhaarigen, scharfzüngigen alten Vettel auszukommen, war Wilkie ein Rätsel. Er brachte den Bus mit einem Ruck zum Stehen, und alle Kinder guckten neugierig heraus.
Clara war Jerry auf die Straße gefolgt. Sie berichtete ganz kurz: »Mrs. Cox muß krank geworden sein.« Sie sei augenscheinlich gefallen und liege quer vor der Tür, und sie, Clara, könne nicht hineingelangen, um irgend etwas für sie zu tun. Ob Mr. Wilkie wohl bitte kommen und ihr helfen wolle? Ihr würde schwindlig, wenn sie in die Höhe klettere; aber Mr. Wilkie könnte vielleicht an der Feuerleiter entlangklettern und Mrs. Cox von der Tür wegziehen?
Wilkie starrte sie einen Augenblick lang an und kletterte dann langsam und schwerfällig aus seinem Bus. Er war ein sehr großer Mann, und die Sache mit der schmalen Feuerleiter war ihm gar nicht geheuer. Aber irgend jemand mußte ja sehen, was mit der Frau los war. Wahrscheinlich stockbetrunken, wie dieser kleine Taugenichts Jerry
Weitere Kostenlose Bücher