Das Raetsel der Liebe
zu, schleckten genüsslich ein Eis. Der Festplatz hallte wider vom Lachen und dem fröhlichen Geschrei glücklicher Kinder. Während Jane und Talia zu einem der Stände gingen, um Ballons aus chinesischem Seidenpapier zu kaufen, sah sich Lydia nach Northwood um. Sie musste lachen, als sie ihn inmitten einer Schar ausgelassener Kinder entdeckte, die Reifen rollen ließen. Sein Haar war vom Wind zerzaust, sein Mantel verknittert, sein Hemd aus feinstem Leinen voller Grasflecke.
Wer war dieser Mann? Der respektable Viscount, der zielstrebig und voller Stolz durchs Leben ging, oder dieser scheinbar sorglose Mann, der Eiscreme mochte, der wusste, wie man mit elfjährigen Mädchen sprach und sich sogar noch daran erinnerte, wie man einen Reifen rollen ließ?
Welchen davon wünschte sich Lydia?
Beide.
Wie ein leises Wispern kam die Antwort direkt aus ihrem Herzen.
Die übliche Warnung folgte unverzüglich, doch Lydia beschloss, sie zu ignorieren und stattdessen der Wärme und Freude dieses Tages zu erlauben, das beständige Gefühl des Unbehagens zu überdecken, das beständig in ihr lauerte.
Jane kam zu ihnen gerannt, um Lydia und Northwood rechtzeitig zum Beginn eines Puppenspiels abzuholen, und nach einer zweiten Portion Zitroneneis begaben sie sich schließlich hinüber zu der Stelle, wo die Musiker ihre Instrumente angestimmt hatten. Fröhliches Lachen mischte sich in die munteren Klänge, als Kinder wie Erwachsene sich im Takt zu bewegen begannen.
»Gewähren Sie mir die Ehre eines Tanzes?«, fragte Northwood, der neben Lydia stehen geblieben war.
»Tanzen? Ich –«
Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Jetzt sagen Sie mir sicher gleich, dass Sie nicht tanzen können.«
»Selbstverständlich kann ich tanzen, Lord Northwood. Ich bin doch gut erzogen.« Lydia hob um ein Winziges das Kinn. »Es ist einfach schon eine ganze Weile her. Ich fürchte, ich bin ein wenig aus der Übung.«
»Dann wird es mir eine große Freude sein, es Ihnen wieder beizubringen.« Er nahm sie sanft beim Handgelenk. Ihr Puls schlug viel zu schnell unter seinen Fingern.
Als sie auf die Tanzfläche traten, erwartete Lydia, dass er sie näher an sich ziehen würde. Stattdessen wich er geschickt den Paaren aus, die jetzt zu einer munteren ländlichen Melodie tanzten, und begann, Lydia in die erste leichte Schrittfolge einzuführen. Eine Hand lag fest auf ihrer Taille. Die Wärme der anderen konnte sie selbst durch ihren Handschuh hindurch spüren. Den Blick hielt er so intensiv auf sie geheftet, dass es schien, als wolle er niemanden anders ansehen, nur sie allein.
Seine Berührung, seine Augen, sein fester Griff, die Bewegungen seines Körpers, der ihrem so nah war – all das löste eine Reaktion in Lydia aus, die sich nur als reines Vergnügen beschreiben ließ, als pure, von Schuld oder Scham ungetrübte Freude.
Sie trennten sich mehrere Male, um mit anderen Partnern zu tanzen – Northwood mit Jane und dann mit Talia, Lydia mit Sebastian und dann mit Lord Castleford. Nach einem besonders schwungvollen schottischen Reel setzte sie sich auf eine Bank, um wieder zu Atem zu kommen.
Dann spielte Sebastian einen Walzer, und Lydia sah, wie Lord Northwood sich suchend umschaute. Nach ihr.
Sie wartete angespannt und voller Vorfreude und wurde von dem Glücksgefühl überwältigt, das durch ihre Adern strömte.
Alexander kam näher und zwinkerte ihr auffordernd zu. In diesem Moment wollte Lydia nur dies und nichts anderes auf der ganzen Welt. Sie legte ihre Hand in seine und ging mit ihm auf die Tanzfläche.
Von seinem Platz aus, gut verborgen in der Menschenmenge, beobachtete er sie und erinnerte sich an ihre erste Begegnung.
Sie war aus dem Zug gestiegen. Auf den ersten Blick nicht gerade eine Schönheit – fahle Haut, weil sie den Großteil ihrer Zeit in geschlossenen Räumen verbrachte, und viel zu ernst, die noch jugendliche Stirn bereits verunziert von Denkfalten. Auch hatte sie kaum ein Wort gesprochen, das überließ sie ihrer Großmutter. Als sie dann zu Hause angekommen waren und sie Hut und Mantel abgelegt hatte, fiel ihm auf, wie gut ihr Kleid ihr stand, wie dicht ihr Haar war, wie dunkel ihre Wimpern.
Und da hatte es angefangen. Die Saat des Verlangens war gelegt. Obgleich es noch viele Monate sorgfältigster Pflege bedurft hatte, bis sie Früchte getragen hatte.
Alle Anstrengungen, die er dieser Aufgabe widmete – sich am Tisch über ihre Schulter zu lehnen, um sie auf einen Fehler in ihren Berechnungen
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