Das Rätsel Sigma
„Nun aber los!“ sagte er entschlossen.
Der Stall sah von weitem aus wie ein riesiges Rad, das mitten in die flache Landschaft gelegt worden war. Nur das zentrale Gebäude, die Nabe des Rades, war etwas erhöht, hier befanden sich Melkstand, Bad und Milchzisterne. Alles andere wirkte niedrig. Der Radkranz beherbergte die tierärztliche Abteilung, Futtersilos, eine Pelletieranlage, die Beschickungsanlagen für die fünf Speichen, den Kälberstall und die Sozial- und Büroräume, ohne die selbst ein Stall nicht auskommt.
In den fünf Speichen des Rades aber, in den fünf Stallabteilungen, standen die zehntausend Rinder des Kreises Neuenwalde.
Das alles erklärte der Leiter der Kooperative, als ihr Wagen über eine sanfte Kuppe fuhr, von der aus man das schimmernde Rad aus Aluminium und Glas als Ganzes liegen sah. Als sie wenig später davor standen, hatte sich freilich dieser großartige Eindruck aufgelöst. Was von weitem wie ein zusammenhängender Radkranz ausgesehen hatte, zerfiel nun in einzelne Gebäude, die durchaus Unterschiede aufwiesen. Nebeneinrichtungen wie das Güllebassin und die Garage drängten sich in den Vordergrund, und alles sah zwar größer und umfangreicher aus, aber auch verwirrend in der Anordnung, die von hier aus nicht mehr zu überblicken war.
„Wie viele Menschen arbeiten hier?“ fragte Herbert Lehmann interessiert.
„Siebenunddreißig“, antwortete der Leiter der Kooperative, „eigentlich noch zu viele. Pro Schicht einer in jeder Stallabteilung, drei im Milchhaus, ein Futtermeister, drei Anlagentierärzte, na und dann der Direktor.“
„Dann gehen wir am besten gleich zu den Tierärzten.“
„Ist gut“, sagte der Leiter. „Und der Geruch stört Sie nicht?“ fragte er lächelnd.
Herbert schüttelte den Kopf. Natürlich roch man die Anlage schon von weitem, aber er empfand dieses ländliche Aroma weitaus weniger unangenehm als manchen industriellen Gestank, den er in seiner Eigenschaft als Umweltschützer schon kennengelernt hatte. Er sagte das auch.
„Na, wenn Sie täglich hier sein müßten, würden Sie das vielleicht anders empfinden. Der Gestank ist für uns die Hauptschwierigkeit in der Kaderfrage.“
Während des Gesprächs waren sie ein Stück auf der Umfassungsstraße gegangen. Nun traten sie durch eine Tür ein. Seltsame Musik kam ihnen entgegen.
Eine junge Frau im weißen Kittel empfing sie. „Die andern sind im Abkalbstall“, erklärte sie.
Der Raum war eine Art Labor, in dem chemische und medizinische Geräte das Bild beherrschten. Nur eins paßte irgendwie nicht hinein – ein Gerät mit vielen Tasten und einem Stuhl davor. „Ist das ein Rechner?“ fragte Herbert neugierig.
Die Frau lachte auf. „Nein, eine elektronische Orgel!“
Herbert mußte wohl ziemlich verdutzt ausgesehen haben, denn der Leiter erklärte: „Es ist wirklich eine. Und Marianne ist unsere Kuhkomponistin. – Guck nicht so böse, Mädchen, den Spitznamen wirst du doch nicht los, also trag's mit Humor.“
„Ich schreibe eine Doktorarbeit über den Einfluß von strukturierten Geräuschen auf die Milchproduktion“, erklärte sie eifrig. „Schon seit Jahrzehnten ist aus praktischen Versuchen bekannt, daß manche Kühe bei der Musik bestimmter Komponisten mehr Milch geben. Natürlich spielt die Kunst dabei keine Rolle, deshalb bin ich auch gegen den Spitznamen, es handelt sich vielmehr um physiologische Zusammenhänge, die wir erforschen. Wir sind eine ganze Gruppe, die in verschiedenen Ställen des Bezirks an diesem Thema arbeitet, aber besser wäre vielleicht, wir wären alle beisammen, dann würde sicher nicht soviel gelästert. Sind Sie von der Presse?“
„Nun halt doch mal die Luft an, Mädchen!“ rief der Leiter. „Hier geht es um wichtigere Dinge!“
„Für mich gibt es nichts Wichtigeres!“ entgegnete die Tierärztin und warf den Kopf zurück.
Herbert zeigte seinen Ausweis und sagte: „Ich erkläre Ihnen gleich, worum es geht. Aber zunächst sagen Sie mir bitte, gehen Sie in den verschiedenen Ställen alle nach dem gleichen Programm vor?“
„Nein, jeder hat ein anderes Programm, dadurch wird die Untersuchung ziemlich umfassend.“
„Haben Sie in der letzten Zeit einen neuen Abschnitt Ihres Programms begonnen?“
„Ja, am Sonnabend.“ Der Inspektor sah den Kooperativleiter nachdenklich an.
„Jetzt möchte ich aber wissen, was hier gespielt wird!“ forderte die Tierärztin.
„Sie haben von der merkwürdigen Krankheit gehört, die in der Kreisstadt
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