Das Rätsel Sigma
„Entschuldige, wenn ich das Bild nicht einschalte, ich bin eben aus dem Bett gekrochen. Was gibt's denn?“
„Mach keine Zicken, ich muß dich sehen“, sagte der Bezirksinspektor, „meinetwegen brauchst du dich nicht in Gala zu werfen.“
„Also gut“, sagte Herbert und drückte den Lichtschalter. Die Wände des Zimmers leuchteten auf, das Mobile aus silbernen mathematischen Flächen und Körpern, das von der Mitte der Zimmerdecke herabhing, bewegte sich träge und funkelte.
Herbert warf einen prüfenden Blick über das Zimmer und schaltete dann die Bildtaste ein.
„Na also“, brummte der Bezirksinspektor. „Hör mal zu. Der Chefdienst hat vorhin eine merkwürdige Meldung aus dem Nachrichtendrucker gezogen. In Neuenwalde fallen Leute um, einfach so, auf der Straße oder sonst wo. Schlafen und sind nicht wieder wachzukriegen.“
„Schlafen?“ fragte Herbert. „Das wollte ich auch gerade.“
„Bloß die wollten es sicher nicht.“
„Wie viele?“
„Drei bisher.“
„Und was geht mich das an?“ fragte Herbert verdrossen, weil er schon ahnte, was nun kommen würde.
„Meinst du nicht, daß wir uns dafür interessieren sollten?“ entgegnete der Bezirksinspektor.
„Im Prinzip ja.“
„Siehst du, und konkret sieht es so aus, daß du der einzige bist, den ich im Moment schicken kann. Ich weiß, du leitest das mathematische Büro, aber es schadet dir gar nichts, wenn du von Zeit zu Zeit deine Nase in die Praxis steckst. Der Wochenbericht kann auch bis Dienstag warten. Fahr hin, melde dich im Kreiskrankenhaus, der Chefarzt heißt, warte mal – Doktor Knabus. Wenn es erforderlich ist, kannst du die Kreisinspektion einsetzen, aber nur, wenn es wirklich nötig ist. Morgen mittag kommst du zurück. Alles klar?“
Herbert zuckte mit den Schultern. „Gar nichts klar – aber was soll's!“
Der Bezirksinspektor nahm das als Zustimmung. „In den Südgaragen steht ein Wagen für dich bereit. Schick ihn gleich zurück, wenn nötig, besorgst du dir dort einen“, sagte er. „Ende.“
Herbert ging ins Schlafzimmer zurück. Um richtig munter zu werden, multiplizierte er schnell zwei fünfstellige Zahlen im Kopf und murmelte dabei leise vor sich hin.
„Was ist los?“ fragte Wiebke verschlafen. „Schimpfst du auf mich?“ Wenn sie verschlafen war, zeigte sie manchmal Anwandlungen von Unterwürfigkeit, und Herbert hatte in den ganzen fünf Jahren ihrer Ehe noch nicht herausbekommen, ob das nun eine Rolle war, in der sie sich gefiel, oder einfach der Ausgleich für die Energie und Bestimmtheit, mit der sie tagsüber auftrat. Und weil er sich darüber nicht klarwerden konnte, mochte er diese Anwandlungen nicht. Unklares war ihm als Mathematiker peinlich.
„Nein, nein“, sagte er beruhigend, „schlaf weiter, ich muß dienstlich weg. Irgend so eine dumme Geschichte in Neuenwalde. Ich ruf dich morgen früh an.“
„Morgen früh ruf ich Onkel Richard an“, meinte Wiebke mit der Unlogik des Halbschlafs.
„Ja, ja“, brummte Herbert, obwohl er lieber nein, nein gesagt hätte, denn diese ganze Amwald-Verwandtschaft, ihre Verwandtschaft, hing ihm zum Halse heraus, ausgenommen vielleicht Leif, ihr jüngerer Bruder, der gerade ein paar Tage Urlaub bei ihnen verbrachte.
„Leif schon wieder da?“ fragte Wiebke.
„Nein, noch nicht. Schlaf weiter.“
„Dann ist er wohl gelandet bei der Kleinen!“ stellte Wiebke befriedigt fest, und gleich darauf schnarchte sie wieder.
Als Herbert im Korridor den Mantel angezogen hatte, machte er doch die Tür zum Kinderzimmer auf, das leider immer noch als Besuchszimmer diente, weil sie es, obwohl sie beide Kinder mochten, doch von Jahr zu Jahr verschoben hatten, das Zimmer seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen. Erst noch diese Aufgabe, erst noch das Problem…
Leif war natürlich nicht darin. Komische Situation, dachte Herbert, als er die Wohnungstür schloß; er kommt von Neuenwalde hierher, und ich fahre hin.
An der Straßenecke standen ein paar E-Taxen. Herbert suchte in seinen Manteltaschen nach einer Märke, er hatte doch Freitagabend erst zehn gekauft, wo waren denn die Dinger – ach so, tags zuvor hatte er ja gar keinen Mantel angehabt, in der Jackentasche mußten sie sein. Und da waren sie auch. Er setzte sich hinter das Steuer, steckte die Marke in den Schlitz und fuhr los. Es war schon nach dreiundzwanzig Uhr, die Straßen waren leer, erst kurz vor den Südgaragen begegnete ihm ein Transporter, der leere E-Taxen in die Innenstadt zurückbrachte,
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