Das Rätsel Sigma
Keiner wollte die Entscheidung hinauszögern. Aber keiner wollte und durfte auch leichtfertig Bedenken beiseite schieben. Und Bedenken gab es genug.
Vom wissenschaftlichen und medizinischen Standpunkt aus wäre es richtig gewesen, die Versuchstiere mindestens drei Tage lang zu beobachten, in dieser Zeit weitere Tierversuche anzustellen und auch nach anderen Behandlungsmethoden zu suchen, bevor überhaupt daran gedacht werden konnte, das Gerät bei einem Menschen zu verwenden.
Andererseits nahm die Gefahr für die Vergifteten jetzt schon stündlich zu, vor allem für diejenigen, die zu den ersten Patienten gehört hatten. Der Zustand von Freds Frau wurde immer kritischer. Bei anderen Kranken traten Störungen in den vom Kleinhirn gesteuerten Lebensprozessen auf. Wieder andere zeigten krankhafte Abweichungen im EEG. Auch die Leichterkrankten, die Intervallschläfer, wurden in beängstigendem Tempo von allen möglichen Folgeerscheinungen heimgesucht. In einigen Fällen erwarteten die Ärzte bereits für den nächsten Tag kritische Situationen.
Unter diesen Umständen blieb keine Wahl. Wiebke Lehmann hatte sich schriftlich bereit erklärt, sich jeder Behandlung zu unterwerfen, die eine Erfolgschance bieten könnte.
Noch einmal ließ Dr. Monika Baatz die Tierpfleger berichten: Der Hund, ebenso wie der Affe und die Katze, die nach ihm behandelt worden waren, bewegten sich völlig normal.
„Die Verantwortung liegt bei mir“, sagte Frau Dr. Baatz. „Ich möchte trotzdem Ihre Meinung wissen – nicht meinetwegen, ich habe mich bereits entschieden. Aber ich möchte nicht, daß ein noch so geringfügiger Einwand unberücksichtigt bleibt. Also?“ Sie sah einen nach dem anderen an.
Vielleicht war dem ersten zu beklommen zumute, denn er sprach kein Wort und nickte nur; aber die andern taten es ihm gleich.
Am schwersten fiel es Herbert, seine Zustimmung zu geben. Freilich, er mußte Wiebkes Entschluß respektieren, von der allgemeinen Lage ganz abgesehen. Aber mußte er das wirklich? War es nicht vielmehr seine Pflicht, dagegen aufzubegehren? Sie hatte unter einem starken moralischen Druck gehandelt – und jetzt war seine Meinung gefragt, nicht die Meinung Wiebkes. Aber ging es hierbei überhaupt noch um eine persönliche Entscheidung? Diktierte nicht die Sachlage eindeutig, was notwendig war?
Er nickte.
Behutsam legten die Pfleger Wiebke Lehmann auf den Tisch. Herbert stand daneben und blickte ihr ins Gesicht. Es sah friedlich und schön aus.
Sorgfältig, endlose Minuten lang, richteten die Ärzte die Lage des Kopfes nach dem Zielschema ein. Hydraulische Kräfte bewegten den Tisch leicht hin und her, bis endlich die Einstellung stimmte. Dann begann die Kanone ihre monotonen Pendelbewegungen.
Pause.
Wieder das lautlose Pendeln.
Wieder Pause.
Noch einmal.
Dann Warten.
Herbert starrte in Wiebkes Gesicht. Was, wenn sie nicht erwachte? Was, wenn bleibende Schäden sich einstellen würden? Würde sie wieder normal leben, laufen, essen, trinken, arbeiten, denken können und alles andere, was den Menschen ausmacht?
Wiebke schlug die Augen auf. Sie lächelte.
Ein befreites Raunen war im Zimmer zu hören.
Doch plötzlich hielten alle den Atem an. Wiebkes Augen wurden starr, so etwas wie ein ungläubiges Staunen trat in ihr Gesicht, aber es konnte auch eine Grimasse sein, die nicht mehr von ihr beherrscht wurde, wer wollte das wissen: das menschliche Gehirn war tausendmal komplizierter als das eines Tieres… „Wiebke, erkennst du mich?“ fragte Herbert leise. „Ja, natürlich“, sagte Wiebke, „aber wie lange war ich denn weg? Du hast ja eine weiße Strähne im Haar!“
SONNABEND
Pressebulletin des Ministeriums für Gesundheitswesen:
Wie bereits mitgeteilt, kam es am vergangenen Wochenende im Kreis Neuenwalde zu einer schweren Lebensmittelvergiftung.
Dank der rastlosen Tätigkeit der Organe des Gesundheitswesens und dank der Unterstützung durch Wissenschaftler aus der Sowjetunion und der ČSSR sowie durch zahlreiche andere Helfer sind alle von der Vergiftung Betroffenen genesen und können im Laufe der kommenden Woche aus der stationären Behandlung entlassen werden.
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