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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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sie ihn auf, die rechte Hand weiterhin an der Waffe. Ihr entging nicht, dass der Strom der Büroangestellten sich um sie wie um einen Stein des Anstoßes teilte.
    Der Obdachlose fasste sich mit der Hand an die schmutzverkrustete, von roten Krebsgeschwüren bedeckte Nase. Seine Hand bebte nach wie vor von alkoholischer Schüttellähmung, und seine Stirn glänzte unter einer Schweißschicht, die ihm die grauen Haarsträhnen an den Schädel klebte.
    »Ich will Ihnen nichts tun«, beteuerte er. »Sind wir nicht alle Gottes Kinder unter Seinem großen Dach? Wenn Sie mir jetzt helfen, wird Gott dann nicht auch Ihnen zu Hilfe kommen, wenn Sie in Not geraten?«
    Er zeigte zum Himmel. Susan ließ ihn keinen Moment aus den Augen. »Mag sein«, meinte sie. »Vielleicht aber auch nicht.«
    Der Mann ignorierte ihren Sarkasmus und plapperte weiter in einem rhythmischen Singsang, als taumelten nur angenehme Gedanken durch seinen Wahnsinn.
    »Wartet nicht Jesus hinter diesen Wolken auf uns alle? Werden wir nicht alle einen kühlenden Trunk aus seinem Kelch bekommen und wahre Freude kennen, so dass all unsere irdische Qual vergeht?«
    Susan blieb stumm.
    »Stehen uns nicht seine größten Wunder noch bevor? Wird er nicht eines Tages wieder auf die Erde kommen, um jedes seiner Kinder in seinen starken Armen zur Paradiesespforte zu tragen?«
    Der Mann lächelte Susan an und entblößte dabei verfaulte Zähne. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und schwankte leicht, als wiegte er ein Kind.
    »All das wird geschehen. Für mich. Für Sie. Für alle seine Kinder auf Erden. Ich weiß es.«
    Susan sah, dass der Mann die Augen nach oben richtete, als unterhielte er sich mit dem blauen Himmel über ihm. Seine Stimme war nicht mehr heiser von Krankheit und Verzweiflung, sondern voller Überschwang. Nun ja, dachte sie, wenn man schon von Illusionen lebte, dann wenigstens wie dieser Mann, dessen Selbstbetrug gutartig und harmlos war. Vorsichtig suchte sie mit der Hand in ihrer Tasche, bis sie ganz unten ein paar lose Münzen fand. Sie zog sie heraus und warf sie dem Bettler hin. Die Geldstücke klimperten auf dem Bürgersteig, der Mann riss sich vom Himmel los und ging auf die Knie, um sie aufzulesen.
    »Danke, danke«, rief er. »Gott segne Sie.«
    Susan drehte sich um und machte sich eilig auf den Weg, während sie den Mann mit seinem Singsang hinter sich hörte. Sie war vielleicht vier Meter gegangen, als sie ihn sagen hörte: »Susan, auch du wirst Frieden finden.«
    Als sie ihren Namen hörte, wirbelte sie herum. »Was?«, schrie sie, »woher wissen Sie …«
    Doch der Mann hockte jetzt an der Wand und wippte in einer Art Wahn oder Wachtraum vor und zurück.
    Sie lief einen Schritt zurück in seine Richtung. »Woher wussten Sie meinen Namen?«, fragte sie schroff.
    Doch der Mann starrte nur mit leerem Blick geradeaus und murmelte etwas vor sich hin. Susan horchte angestrengt, um seine Worte zu verstehen. Das Einzige, was sie aufschnappte, war: »So seien wir alle bereit, auf dem Weg zum Himmelstor zu wandeln.«
    Sie zögerte einen Moment, dann machte sie kehrt.
    Susan
oder
So seien
.
    Das war leicht zu verwechseln.
    Voller Zweifel ging sie los, und als sie sich ein letztes Mal umsah, war der Mann plötzlich verschwunden. Noch einmal lief sie dorthin zurück, wo er gekauert hatte, und suchte die Straße nach ihm ab. Sie sah nichts außer dem ständigen Strom der Berufstätigen. Es kam ihr vor, als sei er eine Halluzination gewesen.
    Einen Moment lang stand sie wie angewurzelt da und spürte, wie in ihr eine diffuse Angst aufstieg. Dann schüttelte sie das Gefühl ab wie ein Hund den Regen und lief weiter zu einem Mittagessen, das sie nicht wollte.
     
    Als der Mann hinter der Theke sie nach ihrer Bestellung fragte, dachte sie erst an Yoghurt mit Früchten, überlegte es sich dann aber anders und bat um ein Schinkenbrötchen mit Schweizer Käse und reichlich Mayonnaise. Der Mann schien zu zögern, und sie meinte: »He, man lebt nur einmal.« Er grinste und machte ihr schnell die Bestellung fertig. Dann steckte er den Imbiss zusammen mit einer Flasche stillem Wasser in eine Papiertüte.
    Susan ging mit ihrem Mittagessen noch sechs Häuserblocks bis zu einem kleinen Park, der an ein Einkaufszentrum grenzte, direkt an der Bucht. Am Eingang wachten zwei berittene Polizisten über die Besucher. Einer hatte sein Automatikgewehr quer über den Sattel gelegt und beugte sich vor – eine moderne Karikatur wie aus einem alten

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