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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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nicht sagen, dass wir nicht einen gewissen Anteil an jungen Leuten hereinbekommen. Durchaus. Und so sehr wir auch dagegen ankämpfen, man hat doch jedes Mal das Gefühl, dass sie betrogen werden,egal, wie sehr wir es ihnen erleichtern. Ich denke, für alle Beteiligten ist es einfacher, wenn der Sterbende schon älter ist. Wie heißt es so schön im Buch der Bücher? In der Fülle ihrer Jahre. Mit siebzig?«
    »Das ist ein Hospiz?«, fragte Susan.
    Die Frau nickte. »Was hatten Sie denn vermutet?«
    Susan zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Es sah von außen so anders aus. So alt. Etwas aus der Vergangenheit statt der Zukunft.«
    »Sterben hat mit der Vergangenheit zu tun«, antwortete die Frau. »Sehen, wo man gewesen ist. All die Augenblicke würdigen, die unwiederbringlich sind.« Sie seufzte. »Es wird immer schwerer, wissen Sie.«
    »Was?«
    »In Frieden zu sterben. Zufrieden zu sterben. Mit Würde, Liebe, Zuneigung und Respekt zu sterben. Heutzutage scheinen die Leute aus allen möglichen falschen Gründen zu sterben.« Die Frau schüttelte den Kopf und seufzte wieder. »Der Tod scheint so gehetzt und gewaltsam«, fuhr sie fort. »Nicht sanft. Es sei denn, hier. Wir sorgen dafür, dass er … nun ja, sanft ist.« Susan nickte. »Was Sie sagen, leuchtet mir ein.«
    Die Frau lächelte wieder. »Möchten Sie sich einmal umschauen? Wir haben derzeit nur ein paar Klienten. Einige Betten stehen leer. Und bis heute Abend kommt wohl noch eines hinzu.« Die Frau neigte den Kopf in Richtung der leisen Musik. »Die
Pastorale
«, erklärte sie, »aber die
Brandenburgischen Konzerte
gehen ganz genauso. Und letzte Woche hatten wir eine Frau, die immer und immer wieder etwas von Crosby, Stills und Nash hören wollte. Kennen Sie die noch? Das war vor Ihrer Zeit. Alte Rocker, vor allem in den sechziger und siebziger Jahren. ›Suite Judy Blue Eyes‹ und ›Southern Cross‹. Dabei hat sie immer gelächelt.«
    »Ich möchte niemanden stören«, meinte Susan.
    »Wollen Sie vielleicht bleiben und sich ein paar Filme anschauen? Heute Abend zeigen wir Marx-Brothers-Klassiker.«
    Susan schüttelte den Kopf.
    Die Frau schien keine Eile zu haben. »Wie Sie wünschen«, sagte sie. »Und sind Sie sicher, dass es niemanden …«
    »Meine Mutter stirbt«, platzte Susan heraus.
    Die Frau hinter dem Schreibtisch nickte langsam. Es herrschte kurzes Schweigen.
    »Sie hat Krebs«, fügte Susan hinzu.
    Wieder Schweigen.
    »Inoperabel. Die Chemotherapie hat auch nicht wirklich angeschlagen. Es gab eine kurze Besserung, aber jetzt ist er wieder da, und er bringt sie langsam um.«
    Die Frau sagte immer noch nichts.
    Susan merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie hatte das Gefühl, als drehte etwas ihre Eingeweide um, bevor sie wie von einer großen Pranke herausgerissen wurden.
    »Ich will nicht, dass sie stirbt«, brach es aus ihr heraus, und sie schnappte nach Luft. »Sie ist immer da gewesen, und sonst gibt es niemanden. Nur meinem Bruder, aber der ist weit weg. »Sonst bin nur noch ich da …«
    »Und?«
    »Dann bin ich allein. Wir sind immer zusammen gewesen, und dann auf einmal nicht mehr …«
    Susan stand verlegen vor dem Schreibtisch. Die Frau bot ihr einen Sessel an, und nach kurzem Zögern ließ sich Susan hineinfallen, holte einmal tief Luft und gab dann hemmungslos den Tränen nach. Mehrere Minuten lang schluchzte sie, während die Frau mit dem widerspenstigen Haar wartete und eine Schachtel Papiertücher bereithielt.
    »Lassen Sie sich Zeit«, meinte die Frau.
    »Es tut mir leid«, brachte Susan mühsam heraus.
    »Dazu besteht kein Grund«, erwiderte die Frau.
    »Das ist überhaupt nicht meine Art«, erklärte Susan. »Ich weine nicht. Ist mir noch nie passiert. Tut mir leid.«
    »Sie sind nicht unterzukriegen? Und das ist Ihnen wichtig?«
    »Nein, es ist nur, ich weiß nicht …«
    »Niemand zeigt heutzutage noch Emotionen. Fahren Sie auch manchmal abends nach Hause und haben das Gefühl, dass wir alle gegen Schmerzen und Verzweiflung unempfindlich geworden sind? Dass die Gesellschaft nur noch Leistung anerkennt? Erfolg. Stärke.«
    Susan nickte. Die Frau lächelte wieder. Susan sah, dass sie die Mundwinkel so verzog, als sähe sie in jeder Traurigkeit die heitere Seite und im Lachen die Tränen.
    »Stark sein wird überschätzt. Kalt zu sein ist nicht dasselbe wie stark zu sein«, erklärte die Frau.
    »Wann melden sich die Leute …?« Susan zeigte auf die Treppe.
    »Gegen Ende. Manchmal drei bis vier Monate, bevor sie

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