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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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zumindest gezielte Schritte einleiten. Doch solange sie keine klare Vorstellung von den Spielregeln hatte, konnte sie keine Strategie entwickeln, um zu gewinnen. Und bei der Erkenntnis, dass sie bislang keine Ahnung hatte, was auf dem Spiel stand, bekam sie vor Angst trockene Lippen.
    Sie dachte an die Frau, der sie ihr Pseudonym verdankte. Mata Hari wusste, was sie riskierte, als sie sich auf das Spiel der Spionage einließ.
    Wer dabei verlor, den erwartete nur eines: der Tod.
    Sie hatte gespielt, und sie hatte verloren. Susan holte tief Luft und wünschte sich, ihr wäre ein anderes Pseudonym eingefallen. Penelope, dachte sie. Die hielt sich mit ihrem Trick, einen Stoff zu weben und anschließend immer wieder aufzutrennen, die Freier vom Hals, bis Odysseus nach Hause kam. Das wäre ein sichereres Alter Ego gewesen.
    Es ging auf Mittag zu. Sie drehte sich um und blickte aus dem Fenster. Die Straßen des Stadtzentrums von Miami füllten sich mit Büroangestellten. Das erinnerte sie an einen Dokumentarfilm, den sie einmal gesehen hatte: Es war um einen afrikanischen Fluss in der Dürrezeit gegangen; der Wasserpegel war so weit gesunken, dass alle Tiere, die davon trinken wollten, in gefährliche Nähe zu den Krokodilen gerieten, die in der brackigen Lebensader lauerten. Der Dokumentarfilm hatte das Gleichgewicht zwischen Versorgung und Tod aufgezeigt – eine riskante Welt. Die Verbindung zwischen denen, die töteten, und ihren Opfern hatte Susan fasziniert.
    Als sie jetzt aus ihrem Fenster starrte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass die Welt diesem natürlichen Terror näher war als je zuvor; die Büroangestellten verließen ihre Gebäude in Gruppen und strebten den zahlreichen Restaurants zu, wobei sie sich sämtlichen Gefahren aussetzten, die eine normale Straße in der Innenstadt selbst am helllichten Tage barg. Die meiste Zeit waren sie sicher. Sie traten in die Sonne, genossen die frische Brise, ignorierten die Obdachlosen und Bettler, die an den kühlen Betonwänden der Häuser lehnten wie Krähen auf einer Leitung. Sie rechnen nicht damit, plötzlich einer tobenden, tödlichen Wut zu begegnen. Rechnen nicht damit, dass vielleicht eine räuberische Gang die nächste Straße unsicher macht. Mittags gehört die Welt der Sonne, den Ordnungshütern, den Menschen mit einem festen Platz im Leben. Zusammen essen gehen? Klar, ist doch nichts dabei.
    Natürlich kam es immer wieder vor, dass jemand zum Mittagessen ging und starb. Genau wie die Tiere, die durch die äußeren Gegebenheiten gezwungen waren, nur wenige Meter von den Krokodilen entfernt, am Wasserloch zu hocken.
    Natürliche Auslese, dachte sie. Die Natur, die uns stärker macht, indem sie die Schwachen und die Dummen der Herde ausmerzt. Wie bei den Tieren.
    In der Mitte ihres Büros bildete sich eine Gruppe. Sie hörte, dass einige Stimmen lauter wurden, als man diskutierte, ob man chinesisch essen oder in eine Salatbar gehen sollte. Für welches von beidem war man bereit, sein Leben zu riskieren? Einen Moment lang dachte Susan daran, sich ihren Kollegen anzuschließen, doch dann entschied sie sich dagegen.
    Sie bückte sich und griff nach der Automatikpistole in ihrer Handtasche. In der Kammer befand sich eine Kugel, der Hammer war zurückgezogen. Die Waffe war gesichert; doch eine kurze Bewegung des Daumes und ein leichter Druck aufden Abzug würden ausreichen, um zu schießen. Am Vortag hatte sie einen Schraubenzieher und eine kleine Juwelierzange genommen, um die Abzugsspannung bei allen ihren Waffen nachzuziehen. Die Waffen würden bei der geringsten Berührung feuern, einschließlich des Sturmgewehrs, das an der Rückseite ihres Schranks an einem Haken hing. In dieser Welt, dachte sie, bleibt einem keine Zeit, darüber nachzudenken, ob man recht oder unrecht tut. Es bleibt nur Zeit zu zielen und abzudrücken.
    Die laute Gruppe, die essen gehen wollte, drängte sich in einen Fahrstuhl. Susan wartete noch einen Moment, dann schlang sie sich ihre Handtasche so über die Schulter, dass sie jederzeit mit der Rechten hineinfassen konnte, um den Pistolengriff zu packen. Sie stand auf und verließ allein das Büro. Ihr war bewusst, dass sie sich allen möglichen Bedrohungen aussetzte, doch gegen die Welt der ständigen Gefahr, die sie draußen erwartete, hatte sie eine Art Immunität entwickelt, denn es gab im Grunde nur eine einzige Bedrohung, die sie wirklich verletzen konnte.
     
    Sobald sie aus dem Gebäude trat, schlug ihr die Hitze wie die aufdringliche

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