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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Fahne eines Betrunkenen entgegen. Für einen Moment blieb sie stehen und beobachtete, wie die flirrende Luft vom Beton des Bürgersteigs aufstieg. Dann machte sie einen Schritt nach vorn und mischte sich, eine Hand noch immer am Pistolenkolben, in den Strom der Büroangestellten. Susan sah, dass an jeder Straßenecke Polizisten standen, die sich hinter ihren mattschwarzen Sturzhelmen und dem Spiegelglas ihrer Sonnenbrillen versteckten, den Finger spielerisch am Abzug ihr Maschinenpistolen. Zum Schutz der Werktätigen, dachte sie. Als Wächter über die Belegschaften, die ihrer alltäglichen Routine nachgingen. Als sie an zwei Beamtenvorüberlief, hörte sie das Knistern ihrer Funkgeräte und die blecherne, geisterhafte Stimme aus der Dienstleitstelle mit den neuesten Informationen über die Einsätze in verschiedenen Teilen der Stadt.
    Sie blieb stehen, um an einem der Gebäude hinaufzusehen, an dessen gläserner Fassade die Sonne wie ein Feuerwerk explodierte. Wir leben in einem Kriegsgebiet, dachte sie. Oder in einer Besatzungszone. In der Ferne ertönte die pulsierende Sirene einer Streife und verhallte.
    Sechs Häuserblocks von dem Gebäude entfernt gab es einen kleinen Sandwichladen. Sie lief in diese Richtung, auch wenn sie unschlüssig war, ob sie wirklich Hunger oder nur das Bedürfnis hatte, inmitten des Menschengedränges allein zu sein. Wohl eher Letzteres. Doch Susan Clayton gehörte zu den Menschen, die bei dem, was sie taten, einen logischen Grund erkennen mussten, auch wenn die angebliche Aufgabe ein tieferes Bedürfnis überdeckte. Sie redete sich ein, sie bräuchte etwas zu essen, auch wenn sie in Wahrheit nur aus der Enge ihrer Arbeitsnische ausbrechen wollte, egal, wie riskant das sein mochte. Sie war sich dieses Ticks bewusst, sah aber keinen zwingenden Grund, daran etwas zu ändern.
    Auf ihrem Weg hörte sie das Gemurmel der Bettler, die sich an die Wände der Bürogebäude drückten, um in deren spärlichem Schatten der Mittagssonne zu entgehen. Ihre inbrünstigen Bitten waren eine ständige akustische Untermalung. Was Kleingeld übrig? Einen
Quarter?
Können Sie mir helfen?
    Ebenso wie alle anderen ignorierte auch sie die Leute.
    Früher hatte es Obdachlosenunterkünfte gegeben, Hilfsprogramme der Gemeinden, um die Menschen, die auf der Straße lebten, zu unterstützen, doch diese hehren Ziele hatten sich mit den Jahren verflüchtigt. Auch die Polizei hatte längst aufgehört,sie einzusammeln; zu viel Aufwand und zu bescheidene Erfolge. Zu wenig Unterbringungsmöglichkeiten nach ihrer Verhaftung. Und deshalb auch gefährlich: zu viele ansteckende Krankheiten – eine unheilvolle Verbindung aus Schmutz, Blut und Verzweiflung. Folglich gab es in jeder Stadt eine Art Schattenstadt; einen Ort, an dem die Heimatlosen zu Hause waren. In New York hatten sie sich in stillgelegten U-Bahn-Tunneln eingerichtet. Dasselbe galt für Boston. Miami und Los Angeles boten den Vorzug des milden Klimas; in Miami hatten sie die Welt unter den Schnellstraßen übernommen und mit behelfsmäßigen Behausungen aus Pappkartons sowie rostigem Stahl tuberkulöse Lebensbereiche gefüllt. In Los Angeles glichen die Aquädukte nun besetzten Häusern. Einige dieser Schattenstädte bestanden schon Jahrzehnte und bildeten eigene Viertel, die man auf einem Stadtplan ebenso präzise hätte einzeichnen können wie die Vorstädte mit ihren Mauern und Toren.
    Als Susan zügig den Bürgersteig entlanglief, schlurfte ein barfüßiger Mann, der trotz der drückenden Hitze einen dicken braunen Wintermantel trug, einen Schritt auf sie zu und bat um ein wenig Kleingeld. Susan zuckte zurück und wandte sich ihm zu.
    Er hielt ihr die zitternde, geöffnete Hand entgegen.
    »Bitte«, flehte er. »Hätten Sie ein paar Münzen übrig?«
    Susan starrte ihn an. Unter der dicken Schmutzschicht an seinen Füßen sah sie eiternde Wunden. »Noch einen Schritt, und ich blas dir den Hintern weg«, antwortete sie.
    »Ich tu Ihnen nichts«, beteuerte er. »Ich brauch nur was …« Er zögerte einen Moment. »… zu essen.«
    »Wohl eher was zu trinken. Oder einen Schuss. Verpiss dich«, fuhr sie ihn an. Der Mann war im Schatten des Gebäudes geblieben, als zögerte er, mit einem einzigen Schritt in die Sonnesein angestammtes Revier zu verlassen. Susan wagte es nicht, ihm den Rücken zuzukehren.
    »Ich brauche Hilfe«, bettelte der Mann.
    »Brauchen wir alle«, antwortete Susan. Sie zeigte mit der Linken auf die Hauswand. »Setz dich wieder«, forderte

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