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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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ein Grundstück, das offenbar von den Bauunternehmern und Stadtplanern vernachlässigt worden war, während ansonsten der größte Teil der Innenstadt mit den unterschiedlichsten Wolkenkratzern und Hotelkomplexen einbetoniert war. Die leichte Brise trug den beißenden Geruch von Reinigungsmitteln herüber, der sich mit dem salzigen Duft des Ozeans mischte. Sie vermutete, dass eine mit Graffiti bedeckte Wand von einem Arbeitstrupp des Bezirksgefängnisses mit einem Hochdruckschlauch und Lösungsmitteln behandelt wurde – eine Sisyphusarbeit; war die Fläche erst sauber, wurde sie erneut zum Zielobjekt von Vandalen, die sich einen Spaß daraus machten, den nächtlichen Streifen zu entwischen. Sie waren ausgesprochen erfolgreich.
    Susan lief weiter die Straße entlang, blieb jedoch auf halber Höhe eines Häuserblocks vor einem bedeutend kleineren, älteren Gebäude stehen, das zwischen die Rückseiten eines Hotelkomplexes und eines Bürogebäudes eingeklemmt war. Das elegante Haus im typischen alten Miami-Stil wirkte wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, aus einer Epoche, als die pulsierende Hip-Hop-Metropole noch eine kleine Stadt in sumpfigem Gelände war, mit einer wachsenden Bevölkerung undeiner Mückenplage. Das Haus stand hinter einer kleinen, gepflegten Rasenfläche. Ein von Blumenrabatten gesäumter Gehweg führte zum Eingang. Über die gesamte Länge des Gebäudes verlief eine Veranda, die eindrucksvolle, zweiflügelige Haustür war vermutlich handgeschnitzt, und das Holz entstammte wohl uralten Dade-County-Pinien – dem bevorzugten Baumaterial vor einem Jahrhundert, ein Holz, das getrocknet so hart wie Granit werden konnte und gegen den verbissensten Schädling unempfindlich war. Die breiten Jalousiefenster hatten horizontale Holzläden gegen Hurrikans und boten zudem Schatten. Das Haus war nur zwei Stockwerke hoch und mit einem glänzend roten Ziegeldach geschmückt, das in der Mittagssonne zu kochen schien.
    Susan starrte es an wie eine kostbare Antiquität inmitten von Stahl und Beton, die das Stadtbild des Zentrums prägten. Es wirkte vollkommen deplaziert und seltsam schön, da es in einer dem Hier und Jetzt verschriebenen Welt so etwas wie Zeitlosigkeit beschwor. Ihr wurde bewusst, dass sie kaum noch alte Dinge zu sehen bekam, als herrschte allgemein eine unausgesprochene Skepsis gegenüber Dingen, die für mehr als ein Jahrhundert geschaffen worden waren.
    Sie trat ein wenig näher und fragte sich, wer wohl einen solchen Bau bewohnte. Sie entdeckte an einem der Verandapfeiler eine kleine Messingplakette. Sie ging noch dichter heran und las: DAS LETZTE HEIM. NÄHERES AN DER REZEPTION.
    Susan zögerte, dann öffnete sie langsam die Flügeltür. Drinnen war es schattig und kühl. An der Decke drehten sich träge, aber unermüdlich ein paar hölzerne Paddelventilatoren. Die weißen Wände zierten braune Holzpaneele, der Boden war mit glänzendem Parkett in der Farbe von Ahornblättern im November bedeckt. Rechts von ihr führte eine breite,weitläufige Treppe ins obere Geschoss, während links ein einzelner Mahagonischreibtisch mit einer antiken Öllampe in der einen Ecke und einem Computermonitor in der anderen stand. Eine Frau in mittlerem Alter mit krausem, grau meliertem Haar, das ihr wie bizarre Gedankenblitze vom Kopf abstand, sah zu ihr auf.
    »Hallo«, sagte sie.
    Ihre Stimme schien durchs Haus zu hallen, und der akustische Effekt erinnerte Susan an eine Universitätsbibliothek. Bevor sie antwortete, sah sie sich noch einmal um und fragte sich, wo der Wachdienst war. Sie sah keine Überwachungskameras in den Ecken, keine elektronischen Sensoren, keine Bewegungsmelder, Alarmsysteme oder automatischen Waffen. Stattdessen herrschte eine feierliche Ruhe, die zart unterlegt war von den leisen Klänge einer Symphonie, die aus einem Zimmer des Hauses drang.
    »Hallo«, erwiderte sie.
    Die Frau lud sie mit einer stummen Geste ein, näher zu treten. Susan tappte über einen blauroten Orientteppich.
    »Benötigen Sie unsere Dienste oder jemand anders?«
    »Verzeihung, ich …«
    »Sterben Sie oder jemand, der Ihnen nahesteht?«
    Susan zuckte innerlich zusammen. »Nein, nicht ich«, platzte sie heraus. Die Frau lächelte.
    »Aha«, machte sie. »Da bin ich froh. Sie wirken so jung, und als Sie zur Tür hereinkamen, dachte ich sofort, es wäre schrecklich unfair, wenn jemand, der so jung ist wie Sie, hierherkommen müsste. Sie sehen so aus, als hätten Sie noch ein langes Leben vor sich. Damit will ich

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