Das Rätsel
Wildwest-Groschenroman. Sie rechnete fast damit, dass er sie fragte, »Wie geht’s, wie steht’s, Ma’am«, doch stattdessen würdigte der Polizist sie hinter seiner Sonnenbrille hervor nur desselben prüfenden Blickes wie jeden anderen auch. Sie vermutete, dass ausschließlichprivilegierte Mitglieder der Gesellschaft in den Park gelassen wurden, um wenige Meter von der Biscayne Bay mit ihren hölzernen Piers ihr Mittagsbrötchen zu essen. Mitten am Tage mussten Stadtstreicher und Obdachlose mit Sicherheit draußen bleiben. Nachts war es vermutlich anders. Dann war es wahrscheinlich reiner Selbstmord, wenn jemand wie sie den kleinen Park kaum hundert Meter vom Strand entfernt betrat. Nach Sonnenuntergang erfüllten die Bäume und Bänke, die in der Hitze des Tages so einladend im Schatten lagen, eine vollkommen andere Funktion: Dann dienten sie als Verstecke. Dass alles zwei Seiten hatte, dachte sie, das machte das Leben so schwierig. Was mittags sicher war, grenzte acht Stunden später an bodenlosen Leichtsinn. Es war wie Ebbe und Flut in den Upper Keys, mit denen sie so vertraut war. Eben noch war ein Gebiet ganz vom Wasser bedeckt, und man konnte es sicher befahren. Im nächsten Moment kam die Ebbe, und man lief auf Grund. Menschen waren wohl ziemlich ähnlich.
Sie fand eine Bank, auf der sie alleine sitzen und ihr Brötchen essen konnte, während sie auf die endlose Wasserfläche starrte und sich nicht darum kümmerte, dass sie zu viele Kalorien und zu viel arterienverstopfendes Fett vertilgte. Eine leichte Brise sorgte in der Bucht für zarte Wellenkräusel, die mit ihrem grünblauen Schimmer fast lebendig wirkten. Sie blickte zwei Tankern hinterher, die aus dem Hafen ausliefen. Mit ihren plumpen Rümpfen waren es unansehnliche Schiffe, die sich wie primitive Rabauken auf dem Schulhof mit ihrer schieren Kraft und Größe auf den belebten Wasserstraßen Platz verschafften.
Sie nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und stellte fest, dass das Quellwasser in der Hitze lauwarm geworden war. Für einen Augenblick dachte sie, dass sie einfach nur dasitzenund alles vergessen konnte: Wer sie war und was mit ihr geschah. Doch es dauerte nicht lange, bis in rasantem Tempo eine Sirene näher kam, gefolgt vom Geknatter eines Helikopters. Sie drehte sich um und sah einen Polizeihubschrauber, der am Rand der Bucht im Tiefflug vorüberraste. Erst dann entdeckte sie zwei Jugendliche, die parallel zum Wasser vom Stadtzentrum her auf den Park zugelaufen kamen, und im nächsten Moment berittene Ordnungshüter, die von der anderen Seite kamen, um den Teenagern den Weg abzuschneiden.
Die Verhaftung dauerte nicht lang. Der Hubschrauber schwebte über der Stelle, und die Berittenen kreisten sie wie in einem Western-Rodeo ein. Falls die Jungen bewaffnet waren, zeigten sie es nicht, sondern hielten die Hände hoch und stellten sich den Polizisten. Sie sah, dass die Jugendlichen grinsten, als hätten sie wenig zu befürchten und als seien ihnen Verfolgung und Verhaftung so vertraut wie der tägliche Sonnenaufgang. Von ihrem Platz aus erkannte Susan, dass Hemd und Hose des einen mit rotbraunen Blutflecken bedeckt waren. Irgendwo, dachte sie, liegt derjenige, dem dieses Blut gehört hat, und stirbt. Oder er ist zumindest so schwer verletzt, dass er nichts mehr spürt.
Sie wandte sich ab, knüllte die Reste ihres Lunchpakets zusammen und warf sie in den Abfalleimer neben der Bank. Dann wischte sie sich die Krümel von den Kleidern. Sie ließ den Blick über den Park schweifen. Es waren vielleicht hundert andere Leute hier, von denen einige aßen, andere nur spazieren gingen. Fast alle beobachteten ruhig und geduldig die Polizeiaktion kurz hinter den Toren des Parks, als wäre es eine Show, die zu ihrer Unterhaltung geboten wurde. Susan erhob sich und warf einen letzten Blick auf die Verhaftung. Mehrere Streifenwagen waren mit Blaurotlicht dazugekommen,außerdem eine Hundestaffel. Ein deutscher Schäferhund zerrte bellend, knurrend und mit gefletschten Zähnen an der Leine. Unter ihren Blicken stieg der Helikopter auf und entschwebte mit einem anmutigen, fast tänzerischen Schwenk in den sonnigen Himmel. Das dumpfe Knattern seiner Rotoren verebbte ebenso wie das Bellen des Hundes, bis sie nur noch leise ihre Schritte auf dem heißen Pflaster hörte.
Susan kehrte zu ihrem Büro zurück, machte jedoch einen Umweg entlang der Bucht, bis sie sich irgendwann stadteinwärts halten musste. Sie erreichte eine kleine Nebenstraße,
Weitere Kostenlose Bücher