Das Rätsel
sarkastischen, etwas müden Tonfall an.
»Weißt du was, Kumpel? Ich kenne dich. Ich kenne dich sogar gut, hab dich schon ein Dutzend Mal, was sag ich, hundertmal gesehen. Ich hab dich vor Gericht gesehen. Ich hab dich in deiner Gefängniszelle befragt. Ich hab eine ganze Latte an wissenschaftlichen Untersuchungen mit dir angestellt, deine Größe, dein Gewicht, deinen Appetit taxiert. Von Rorschach- und Minnesota-Multiphasen- bis zu IQ- und Blutdruck-Tests – das ganze Programm. Ich hab dir Blut abgezapft und deine DNA analysiert. Verdammt, ich war sogar nach deiner Exekution bei deiner Autopsie dabei und hab Gewebeproben von deinem Hirn unter dem Mikroskop gehabt. Ich kenne dich wie meine Hosentasche. Du hältst dich für einmalig und allmächtig, aber, tut mir leid, mein Junge, das bist du nicht. Du hast dieselben gottverdammten Neigungen und Perver sionen wie tausend andere von deinem Schlag. Es gibt tausend Fallstudien, die dich beschreiben. Du geisterst durch beliebte Unterhaltungsromane. In der einen oder anderen Form läufst du schon seit Jahrhunderten herum. Falls du dich wirklich für was Besonderes hältst und dir einbildest, du hättest dämonische Kräfte, dann liegst du verdammt daneben. Du bist ein Klischee. So banal wie ein Schnupfen im Winter. Das hörst du nicht gerne, stimmt’s? Da meldet sich diese wütende Stimme in dir und fängt an zu geifern und alle möglichenForderungen auszuspucken. Hab ich recht? Am liebsten würdest du rausmarschieren und den Mond anheulen und dir vielleicht das nächste Mädchen greifen, nur um mir zu beweisen, dass ich mich irre, hm? Aber soll ich dir was sagen, Junge? In Wahrheit ist das einzig Besondere an dir, dass sie dich bis jetzt noch nicht geschnappt haben und dass die Aussichten für dich nicht schlecht sind, noch eine Weile auf freiem Fuß zu bleiben. Und zwar nicht, weil du so wahnsinnig schlau bist, wie du bestimmt denkst, sondern weil niemand die verfluchte Zeit oder Lust hat, dich zu jagen; weil sie Besseres zu tun haben, als Perverslingen hinterherzulaufen, auch wenn ich beim besten Wil len nicht sagen kann, was sie unter was Besserem verstehen. Jedenfalls ist das meistens der Grund. Sie lassen dich in Ruhe, weil es niemanden besonders interessiert. Du bist einfach nicht die riesengroße Nummer, für die du dich hältst …«
Er seufzte, kramte in der Mappe nach der Nummer, die laut Agent Martin dort irgendwo notiert war, und fand sie tatsächlich auf einem Zettel. Er warf noch einmal einen kurzen Blick auf die Fotos und die Unterlagen, um ganz sicherzugehen, dass er nicht irgendetwas Aufschlussreiches übersehen hatte, das ins Auge sprang. Er trank noch einen Schluck Wodka und ärgerte sich darüber, dass ihn bei den indirekten Drohungen des Polizisten eine böse Vorahnung und eine diffuse Angst gepackt hatten.
Wer ich wirklich bin?
Er seufzte seine Antwort: Ich bin, der ich bin.
Ein Experte für schreckliche Todesarten.
Mit der Hand, in der er das Glas hielt, winkte er in Richtung der drei Akten zu seinen Füßen müde ab.
»Vorhersehbar«, sagte er laut. »Ganz und gar vorhersehbar. Und vermutlich gleichzeitig ganz und gar unmöglich. Nichtsweiter als noch so ein kranker, anonymer Killer. Das wollen Sie sicher nicht hören, oder, Herr Polizist?«
Er lächelte und griff nach dem Telefon.
Agent Martin meldete sich beim zweiten Klingeln. »Clayton?«
»Ja.«
»Gut. Sie haben keine Zeit vergeudet. Haben Sie an Ihrem Telefon eine Videoverbindung?«
»Ja.«
»Gut, dann schalten Sie das verdammte Ding ein, damit ich Ihr Gesicht sehen kann.«
Jeffrey Clayton folgte der Aufforderung und knipste den Videomonitor an, stöpselte das Telefon ein und setzte sich gegenüber der Kamera in einen Sessel. »So besser?«
Auf dem Bildschirm erschien augenblicklich in perfekter Bildschärfe der Agent. Er saß auf der Ecke eines Betts in einem der Hotels im Zentrum der Stadt. Er hatte noch die Krawatte um, doch sein Jackett hing über einem Stuhl. Er trug außerdem seine Seitenwaffe.
»Also, was können Sie mir sagen?«
»Ein bisschen. Wahrscheinlich Dinge, die Sie schon wissen. Ich hab erst einen ersten flüchtigen Blick auf die Fotos und Dokumente geworfen.«
»Was sehen Sie, Professor?«
»Augenscheinlich derselbe Mann. Ziemlich offensichtlich schwingt in der Symbolik, wie er die Leichen plaziert hat, Religiöses mit. Was halten Sie von einem ehemaligen Priester? Einem früheren Messdiener vielleicht? Etwas in dieser Richtung.«
»Daran habe ich
Weitere Kostenlose Bücher