Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
Stattdessen stand sie unter siebenhundertfünfzig Volt Strom. Er bereitete den Videorekorder wieder zur Aufnahme vor.
    Er wusste, dass er am Ende eines langen Tages Hunger haben sollte, hatte er aber nicht. Er ließ langsam und laut die Luft aus seinen Lungen entweichen und ging in die kleine Küche, wo er eine Flasche finnischen Wodka im Tiefkühlfach fand. Er goss sich ein Glas ein, nahm ein paar kleine Schluck und genoss es, wie die Flüssigkeit ihm bitter und kalt die Kehle hinunterrann. Dann betrat er sein Wohnzimmer und warf sich in einen Ledersessel. Er sah, dass auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht auf ihn wartete, und wusste ebenso gut, dass er sie ignorieren würde. Er streckte die Hand danach aus und hielt inne. Stattdessen nahm er noch einen Schluck aus seinem Glas und lehnte sich zurück.
    Hopewell.
    Ich war erst neun Jahre alt.
    Nein, nicht nur das.
    Ich war neun und hatte Angst.
    Was weiß man mit neun Jahren?, fragte er sich plötzlich. Wieder atmete er langsam aus, dann kannte er die Antwort. Man weiß nichts und gleichzeitig alles.
    Jeffrey Clayton fühlte sich, als triebe ihm jemand eine Nadel in die Stirn. Nicht einmal der Alkohol konnte den pochenden Schmerz überdecken.
    Es war eine Nacht wie diese, vielleicht nicht ganz so kalt, und es lag Regen in der Luft. Er dachte: Ich erinnere mich an den Regen, denn als wir gingen, spuckte er mir ins Gesicht, als hätte ich was Unrechtes getan. Der Regen schien all die wütenden Worte zu verschlucken, und er stand – nach so viel Gebrüll endlich stumm – in der Tür und sah uns hinterher.
    Was sagte er noch gleich?
    Jeffrey entsann sich wieder: »Ich brauche euch. Dich und die Kinder …«
    Und ihre Antwort: »Nein, das tust du nicht. Du hast ja dich.«
    Und er hatte erwidert: »Ihr seid alle ein Teil von mir …«
    Dann hatte er die Hand seiner Mutter gefühlt, die ihn ins Auto schob und auf den Rücksitz drückte. Er wusste noch, dass sie seine kleine Schwester auf dem Arm trug, die weinte; sie hatten nicht genügend Zeit gehabt, mehr zu packen als ihren kleinen Rucksack, nur ein paar Kleider zum Wechseln. Sie hat uns in den Wagen geworfen, dachte er, und gesagt: »Blickt nicht zurück. Seht ihn nicht an«, und dann fuhren wir los.
    Er hatte seine Mutter vor Augen. Das war die Nacht, in der sie alt geworden war, und die Erinnerung machte ihm Angst. Er sagte sich, er hätte keinen Grund zur Sorge.
    Wir sind von zu Hause weggegangen, weiter nichts.
    Sie hatten einen Streit. Einen von vielen. Schlimmer als sonst, aber nur, weil es der letzte war. Ich habe mich in meinem Zimmer versteckt und versucht, nicht hinzuhören. Worüber haben sie sich gestritten? Ich weiß es nicht. Ich hab sie nie gefragt. Ich hab es nie erfahren. Nur dass es diesmal das Ende war, und das wusste ich. Wir sind in den Wagen gestiegen und losgefahren. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Nicht ein einziges Mal.
    Er nahm noch einen langen Schluck.
    Na und? Eine traurige Geschichte, aber nicht ungewöhnlich. Eine zerrüttete Beziehung. Frau und Kinder gehen, bevor bleibender Schaden entsteht. Sie war tapfer. Sie hat das Richtige getan. Ihn hinter sich gelassen. Einen Schlussstrich ge zogen. Neu angefangen, an einem Ort, wo er keinem von uns weh tun konnte. Gar nicht so ungewöhnlich. Richtet natürlich psychischen Schaden an, das weiß ich durch meine eigenen Studien und dank meiner eigenen Therapie. Aber irgendwann hat man es überwunden, alles überwunden.
    Ich bin kein seelischer Krüppel.
    Er sah sich in seiner Wohnung um. In der Ecke stand ein Schreibtisch, auf dem sich Papiere häuften. Ein Computer. Viele Bücher, wahllos in ein Regal gezwängt. Zweckmäßiges Mobiliar, nichts, dem man nachtrauern würde oder das sich nicht leicht ersetzen ließe, falls es gestohlen würde. An einer Wand hingen ein paar seiner Auszeichnungen und Diplome. Hier und da Reproduktionen von Klassikern der modernen Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, darunter Warhols Suppendose und Hockneys Blumen. Sie brachten ein paar Farbtupfer ins Zimmer. Außerdem hatte er einige Kinoplakate aufgehängt – sie verbreiteten ein Gefühl von Action, das er mochte, da er sein eigenes Leben oft zu geruhsam fand undganz gewiss zu trist; aber er wusste nicht recht, wie er das ändern sollte.
    Wie kommt es also, dass du in Panik gerätst, nur weil ein Fremder die Nacht erwähnt, in der du als Kind von zu Hause wegmusstest?
    Er wiederholte noch einmal: Ich habe nichts Unrechtes getan. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Sie

Weitere Kostenlose Bücher