Das Rätsel
Zeit.«
Jeffrey zog sich dunkle Kleidung an und huschte im Zentrum des Collegestädtchens zwischen dem Neonlicht der Läden und Restaurants vorsichtig von Schatten zu Schatten. Vor Antonios Pizzeria stand die übliche Menschenschlange und wartete auf Einlass; er sah, wie der Wachmann das Gewehr schwang, um unter den hungrigen Studenten für Ordnung zu sorgen. Eine andere Menschentraube kam gerade aus dem Kino in der Pleasant Street, in dem der neueste Streifen eines Genres lief, dass die Jugendlichen
Geporn
nannten, eine Wortschöpfung, welche die beiden zentralen Themen der meisten Filmplots zusammenfasste – Gewalt und Pornographie.
Er drückte sich flach an die Klinkerwand eines Videogeschäfts, als eine Kohorte wilder Halbwüchsiger ihn überholte. Die Jugendlichen marschierten in militärischem Gleichschritt und brachen ab und zu in einen monotonen Sprechgesang mit wechselnden Stimmen aus. Zwölf Kinder liefen in Formation hinter einem schlaksigen, pickelübersäten Anführer,der seiner Umgebung mit einem bösartigen Blick signalisierte, dass mit dem Schlimmsten rechnen musste, wer es wagte, sie anzustarren. Sie trugen alle die gleichen Jacken mit dem Logo eines Profi-Basketball-Teams, dazu Strickmützen und Hightech-Sportschuhe. Der Jüngste, vermutlich erst neun oder zehn, bildete die Nachhut. Seine kurzen Beine, die sich verzweifelt abmühten, mit dem Anführer Schritt zu halten, wären für den Professor ein komischer Anblick gewesen, hätte er nicht gewusst, wie gefährlich die Gang sein konnte. In regelmäßigen Abständen drehte sich der Picklige um, lief rückwärts weiter und rief den anderen zu:
»Wer sind wir?«
Ohne zu zögern kam die Antwort in schrillem Chor:
»Wir sind die Hauptstraßen-Hunde!«
»
Und was gehört uns?
«
»Uns gehört die Straße!«
Dann klatschten sie alle dreimal in die Hände, so dass es wie Schusssalven durchs Geschäftszentrum dröhnte.
Selbst die Studenten vor dem Italiener gingen den Kids aus dem Weg und teilten sich vor der marschierenden Gruppe wie eine Welle vor dem Bug. Der Wachmann der Pizzeria richtete sein Gewehr auf den Anführer, der dafür nur ein Lachen und eine obszöne Geste übrig hatte. Jeffrey sah, dass ein Streifenwagen der städtischen Polizei die Jungen aus sicherer Entfernung beschattete. Alle fürchten die Kinder, dachte er. Mehr als irgendjemanden sonst. Gegen Serienmörder, Vergewaltiger, Diebe und tollwütige Tiere kann man einfache Maßnahmen ergreifen; gegen Pocken, Grippe und Typhus kann man sich impfen lassen – aber es ist schwer, sich vor den Massen vernachlässigter Kinder zu schützen, die für die Welt, der sie ausgeliefert sind, nichts als Hass übrig haben. Er fragte sich, ob die Politiker, die das Abtreibungsrecht aufgehoben hatten,je die Kinder-Gangs auf den Straßen zu sehen bekamen und sich einen Moment lang fragten, wie es dazu kam.
Jeffrey hastete aus dem Schutz des Schattens und überquerte hinter der Streife den Fahrweg. Er sah, wie sich einer der Polizisten ruckartig umdrehte, als sähe er in seiner Gestalt, die hinter ihnen auftauchte, eine Bedrohung, dann gaben sie ein wenig Gas und fuhren langsam davon. Er lavierte sich zwischen den Laternen hindurch in Richtung Stadtbücherei.
Er überlegte: Was weiß ich über den Einundfünfzigsten Bundesstaat? Nicht viel, räumte er ein, und das Wenige, was ihm bekannt war, bereitete ihm ein ungutes Gefühl, auch wenn er nicht präzise hätte sagen können, warum.
Vor etwas mehr als zehn Jahren hatten ungefähr zwei Dutzend der größten Aktiengesellschaften der Vereinigten Staaten angefangen, in sechs, sieben westlichen Bundesstaaten große Flächen Land aus nationalstaatlichem Besitz aufzukaufen. Auch von den einzelnen Bundesstaaten hatten sie Grund erworben oder, besser gesagt, deren Abtretung erwirkt. Die Idee war simpel und fußte letztlich auf einem Konzept, das die Disney Corporation in den neunziger Jahren mitten in Florida entwickelt hatte: noch einmal von vorne anfangen, kleine und große Städte sowie ländliche Gemeinden mit allem, was dazugehört, einschließlich Wohnungen und Schulen, aus dem Nichts erschaffen und dabei zugleich die alten Ideale eines längst vergangenen Amerikas wiederaufleben lassen. Ursprünglich sollten diese firmeneigenen Welten den Menschen, die für die Unternehmen arbeiteten, einen sicheren Lebensraum bieten. Doch diese neue Variante besaß große Anziehungskraft. Mehr als einmal hatte Jeffrey Clayton sich die Fernsehwerbung für den
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