Das Rätsel
fängt es immer an, dachte er. Ein Polizist mit ein paar Fotos, der glaubt, ich brauchte nur diese Bilder zu sehen und – Abrakadabra – ich weiß, wer der Mörder ist. Er seufzte laut, öffnete jedes Dossier und breitete den Inhalt auf dem Boden aus.
Kaum kamen die Fotos ans Licht, wusste er, weshalb der Fall Agent Martin zu schaffen machte. Drei verschiedene toteMädchen, alle, nahm er an, zwischen dreizehn und fünfzehn, alle mit ähnlichen klaffenden Schnittwunden am nackten Körper, alle post mortem in ähnliche Stellungen gebracht. Ein Rasiermesser?, war sein erster Gedanke. Ein Jagdmesser vielleicht? Jedes Mädchen lag mit dem Gesicht nach oben nackt auf der Erde, die Arme seitlich ausgestreckt. In dieser Stellung ließen sich Kinder gewöhnlich in Neuschnee fallen, um den Abdruck eines Engels zu formen. Er entsann sich, wie er selbst als Kind solche Figuren gezaubert hatte, bevor sie nach Süden zogen. Er schüttelte den Kopf. Eindeutig religiöse Symbolik, stellte er fest. Es war, als seien sie gekreuzigt worden, und das stimmte auf eine abstruse Art wohl auch. Er warf einen weiteren flüchtigen Blick auf die Bilder und sah, dass jedem Opfer der rechte Zeigefinger abgetrennt worden war. Er hatte den Verdacht, dass ihnen noch ein anderes Körperteil fehlte oder auch eine Strähne Haar. »Du verzichtest bestimmt nicht auf ein Souvenir«, sagte er laut zu dem Mörder, der in seinem Kopf unerbittlich Kontur annahm, so als säße er auf dem Sessel ihm gegenüber, erst schemenhaft, dann beinahe mit Händen zu greifen.
Er warf einen Blick auf die jeweilige Umgebung, in der die Leichen lagen. In einem Fall schien es ein Wald zu sein, und das junge Mädchen ruhte auf einer flachen felsigen Fläche. Die zweite sah nach Morast aus, mit dicht verschlungenen Kletten- und Rankenpflanzen. Nicht weit von einem Fluss, dachte Jeffrey. Im dritten Fall war es schwer zu sagen; wieder schien es sich um eine ländliche Gegend zu handeln, doch das Verbrechen hatte offensichtlich Anfang Winter stattgefunden; rund um die Leiche lag hier und da frischer Schnee, der nur teilweise weggeschmolzen war. Auf der Suche nach Blut sah er sich diese Partien genauer an, fand jedoch kaum Spuren. »Du hast sie also erst in deinen Wagen gepackt, nachdem dusie getötet hast, was?« Er schüttelte den Kopf. Das stellte natürlich ein Problem dar. Es war immer leichter, einen Leichenfundort auszuwerten, wenn er zugleich der Tatort war. Leichen, die weggeschafft worden waren, stellten die Ermittler grundsätzlich vor Probleme.
In Gedanken versunken stand er auf und kehrte in die Küche zurück, wo er sich noch ein Glas Wodka eingoss. Wieder nahm er einen langen Zug und nickte, als er das angenehm leichte Gefühl im Kopf spürte. Mit einem Schlag war ihm bewusst, dass seine Kopfschmerzen verflogen waren, und er kehrte zu dem Beweismaterial auf dem Boden des kleinen Wohnzimmers zurück.
Er führte weiter Selbstgespräche in einer Art Singsang, so wie ein Kind, das allein in einem Zimmer spielt: »Autopsie, Autopsie, Autopsie. Wette zwanzig Mäuse, dass die Mädels allesamt post mortem vergewaltigt wurden und dass du nicht ejakuliert hast, mein Freund, hab ich recht?«
Er fand die drei Berichte und blätterte sie durch, bis er den Vermerk des Pathologen hatte, nach dem er suchte.
»Ich gewinne«, stellte er laut fest. »Zwanzig Mäuse, zwei Zehner, zwanzig Piepen, Kinderspiel. Volltreffer, wie immer.«
Er nahm noch einen Drink.
»Falls du ejakuliert hast, dann, als du sie getötet hast, richtig? Denn da gehst du richtig ab, das ist der Moment für dich. Der Lichtmoment? Eine gewaltige Explosion, die hinter deinen Augen aufbrandet, bis in die letzten Winkel deines Hirns, deiner Seele? Eine Art Verzückung, ganz und gar unglaublich, dass du von Ehrfurcht ergriffen bist?«
Er nickte. Er sah sich im Zimmer um, deutete auf einen leeren Sessel und sprach, als hätte der Mörder gerade den Raum betreten: »Willst du dich nicht setzen? Mach’s dir bequem!« In Gedanken formulierte er eine Personenbeschreibung. Nichtallzu jung, dachte er. Irgendwie unauffällig. Weiß. Wirkt nicht bedrohlich. Vielleicht eher wie ein Schlappschwanz oder Trottel. Auf jeden Fall ein Eigenbrötler.
Er musste lachen, als sich der Mörder, der ihm gegenübersaß, Stück für Stück zusammenfügte, denn er beschrieb nicht nur einen typischen Serienmörder, sondern auch sich selbst. Er unterhielt sich weiter mit dem gespenstischen Besucher, und seine Stimme nahm einen
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