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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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zu tun hatten, folglich machte es ihm auch mehr Angst. Seine Schwester und seine Mutter hatten sich die Fotos angesehen und geschaudert, doch das war nicht dasselbe, wie den gequälten Leichnam eines Opfers mit eigenen Augen zu sehen und zu begreifen, welche Raserei und welch ungezügelte Gier jedem Schnitt und jedem Stich diese Wucht verliehen hatten. Der Umstand, dass er eine Komplizin gefunden hatte, die ihm bei diesen Taten zur Seite stand, machte die Situation noch komplizierter. Und dass es auch noch einen Sohn gab, erhöhte die Explosivität dieser Mischung. Aus seiner Sicht war er zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester dabei, sich blindlings in die größte Gefahr zu stürzen. Andererseits hatten sie vielleicht keine andere Wahl.
    Jeffrey ließ den Kopf in die Hände sinken und fühlte sich plötzlich vollkommen erschöpft. Er konnte nur noch einen Gedanken fassen: So war es geplant, so sollte es von Anfang an enden.
    »Vergiss nicht den anderen Faktor«, sagte Susan unvermittelt. »Kimberly Lewis. Einserschülerin. Der ganze Stolz und Sonnenschein eines völlig verwirrten Elternpaars, das sich in diesem Moment fragt, was zum Teufel hier vor sich geht und wo ihre Tochter stecken mag.«
    »Sie ist tot. Und selbst wenn nicht, doch so gut wie.«
    »Jeffrey!«, protestierte Diana.
    »Es tut mir leid, Mutter, aber was dieses junge Mädchen betrifft– frag dich doch selbst, ob sie noch einmal davonkommen kann. Ich meine, gibt es so viel atemberaubendes, unbegreifliches Glück? Wird ein gütiger Gott mit einem milden Lächeln auf sie heruntersehen? Falls ja, dann wird sie aus dieser Sache so viele Narben davontragen, dass sie für den Rest ihres Lebens gezeichnet ist. Aber für unsere Überlegungen gehe besser davon aus, dass sie tot ist. Selbst wenn du sie um Hilfe rufen hörst, gehe davon aus, dass sie tot ist. Wenn du sie flehen und schreien hörst, dass es dir das Herz zerreißt, geh davon aus, dass sie tot ist. Andernfalls verschaffen wir ihm einen Vorteil, den wir uns nicht leisten können.«
    »Ich glaube nicht, dass ich so zynisch denken kann«, erwiderte seine Mutter.
    »Und wenn schon, uns bleibt nichts anderes übrig.«
    »Das verstehe ich«, begann sie, »aber …«
    Jeffrey fiel ihr mit der erhobenen Hand ins Wort. Er sah zuerst seine Mutter, dann seine Schwester unerbittlich an. »Ich sag euch eines«, flüsterte er. »Wenn ihr euch mit der Realität auseinandersetzen wollt statt mit einer abstrakten Idee, dann müsst ihr einiges begreifen. Wir müssen unsere ganze Menschlichkeit über Bord werfen, alles, was unseren Charakter ausmacht. Wir nehmen nichts weiter mit als ein paar Waffen und unseren unumstößlichen Entschluss. Wir gehen einzig und allein dorthin, um diesen Mann zu töten. Und darüber hinaus müssen wir begreifen, dass diese neue Frau und dieses neue Kind nichts weiter sind als sein verlängerter Arm – seine Schöpfungen, sein Ebenbild sozusagen. Sie sind genauso gefährlich wie er. Schaffst du das, Mutter? Kannst du vergessen, wer du bist, und dich auf die verborgensten Instinkte verlassen, die irgendwo tief in dir schlummern? Die Wut und den Hass? Nur das wird uns helfen, sonst nichts. Kannst du das, ohne zu zögern, ohne die geringsten Gewissensbisse, den geringstenZweifel? Denn eine zweite Gelegenheit bekommen wir nicht. Niemals, wohlgemerkt. Wenn wir also in seine Welt eindringen, dann müssen wir darauf gefasst sein, dass wir nach seinen Regeln spielen und ihm in nichts nachstehen dürfen. Schaffst du das?«
    Er sah seine Mutter an, doch sie blieb stumm. »Kannst du so sein wie er?« Er drehte sich mit einer abrupten Bewegung zu seiner Schwester um und stellte ihr dieselbe Frage. »Kannst du das?«
    Susan wollte nicht antworten. Sie glaubte, dass ihr Bruder mit jedem Wort, das er sagte, richtig lag. Ihm ist bewusst, wie leichtsinnig wir sind, dachte sie. Andererseits ist Leichtsinn zuweilen die einzige Alternative, die das Leben einem lässt.
    »Nun denn«, sagte sie und setzte ein falsches Grinsen auf. Sie leckte sich über die trockenen Lippen. Ihre Kehle war wie ausgedörrt, als lechzte sie nach einem Schluck Wasser. Sie trat an den Monitor, um sich nicht anmerken zu lassen, wie nervös sie war, und machte sich daran, den Grundriss des Hauses am Buena Vista Drive zu studieren, während sie sich tollkühn und tapfer gab. »Wir werden ja sehen, nicht wahr? Noch heute Abend.«

23. KAPITEL
Die zweite Tür wird geöffnet
     
    Als Jeffrey seine Mutter und seine Schwester

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