Das Rätsel
Gedächtnis haftete, wenn auch in den hintersten Winkel verdrängt.
Der Mann wirkte jünger und kräftiger, als man bei seinen mehr als sechzig Jahren vermutet hätte; das versetzte Diana Clayton einen Stich, da es sie daran erinnerte, wie alt und todgeweiht sie selbst wirken musste.
Jeffrey senkte den Blick und sah, aus Angst, sich selbst darauf wiederzuerkennen, das Bild nur widerstrebend an.
Je länger Susan das Gesicht auf dem weißen Hochglanzpapier anstarrte, merkte sie, wie sich eine Wut in ihr zusammenbraute, die jeder Beschreibung spottete, denn in diesem Zorn ballte sich nicht nur der Hass auf seine Verbrechen zusammen, sondern auch die Einsamkeit und Verzweiflung, die sie ihrganzes Leben lang begleitet hatten. Sie hätte schwer sagen können, welcher Zorn der größere war.
Jeffrey wandte sich an seine Mutter. »Hat er sich wirklich verändert?«
Sie nickte. »Ja«, bestätigte sie zögerlich. »Fast alles in seinem Gesicht hat er ändern lassen, so viel, wie nötig war, um ein neues zu kreieren. Abgesehen von den Augen natürlich. Die sind unverändert.«
»Hättest du ihn wiedererkannt?«
»Ja.« Sie holte tief Luft. »Nein. Vielleicht doch nicht.« Diana seufzte. »Die Antwort lautet wahrscheinlich: Ich weiß es nicht. Ich hoffe, ja. Vielleicht aber auch nicht.«
»Er sieht nach nichts Besonderem aus«, erklärte Susan schroff.
»Das tun sie nie«, erwiderte Jeffrey. »Wäre zu schön, wenn man den schlimmsten Kerlen all ihre Bösartigkeit vom Gesicht ablesen könnte, kann man aber nicht. Sie sind unscheinbar und gewöhnlich, freundlich und unauffällig – bis zu dem Moment, in dem sie die vollkommene Kontrolle über dein Leben haben und dich mit Genuss töten. Dann werden sie allerdings zu etwas Besonderem und setzen sich von anderen ab. Manchmal sieht man es für einen Moment aufblitzen – wie bei David Hart unten in Texas. Aber gewöhnlich nicht. Sie gehen in der Menge unter. Das ist vielleicht das Schlimmste. Dass sie aussehen wie du und ich.«
»Nun denn«, sagte Susan mit einem kurzen, trockenen Lachen, »danke für den lehrreichen Vortrag, Bruderherz. Und jetzt schnappen wir ihn uns.«
»Müssen wir nicht«, widersprach Jeffrey barsch. »Ein einziger Anruf von mir beim Direktor der Staatssicherheit genügt, und er schickt ein SWAT-Team hin, um das ganze Haus in die Luft zu jagen, mitsamt den Bewohnern. Wir könnenuns im Sessel zurücklehnen und aus sicherer Entfernung zuschauen.«
Diana sah ihren Sohn an und schüttelte den Kopf. »Es hat nie eine sichere Entfernung gegeben«, gab sie zu bedenken.
Susan nickte. »Wie kommst du darauf, dass der Staat unser Problem zu unserer Zufriedenheit lösen wird?«, fragte sie. »Wann hätte denn schon mal irgendeine staatliche Behörde so etwas getan?«
»Das hier ist unser Problem. Wir sollten es selbst lösen«, meinte Diana. »Ich kann mich nur wundern, dass du eine andere Möglichkeit in Betracht ziehst.«
Jeffrey schien verwirrt. Er sah besonders seine Schwester eindringlich an. »Ihr verkennt die Gefahr dabei«, warnte er. »Verdammt, was sag ich, ihr ignoriert sie. Glaubt ihr, er würde davor zurückschrecken, uns zu töten?«
»Nein«, antwortete sie. »Na ja, vielleicht. Immerhin sind wir seine Kinder.«
Sie schwiegen alle drei, bevor Susan den Faden wieder aufnahm: »Er hat mit jedem von uns ein Spiel getrieben, das uns an seine Türschwelle bringen sollte. Wir haben jeden Wegweiser gefunden, alles, was er getan hat, richtig gedeutet, haben jeden Köder geschluckt, und nachdem wir alles zusammengesetzt haben, wissen wir, wer er ist und wo er lebt und wer zu seiner Familie gehört. Und du glaubst im Ernst, wir sollten es an den Staat delegieren, nachdem wir so weit gekommen sind? Mach dich nicht lächerlich. Das Spiel war für uns alle gedacht. Also spielen wir es bis zum Ende.«
Diana nickte. »Ich frage mich, ob er diese Unterhaltung auch bereits vorausgesehen hat.«
»Wahrscheinlich ja«, erwiderte Jeffrey düster. »Ich verstehe ja, was du sagst, ich bewundere deine Entschlossenheit. Aber was wäre gewonnen, wenn wir ihn uns selbst vorknöpfen?«
»Unsere Freiheit«, antwortete Diana lapidar.
Jeffrey hielt seine Mutter für romantisch und seine Schwester für ungestüm. Irgendwie bewunderte er diese Eigenschaften. Doch ihr Verständnis vom einstigen Jeffrey Mitchell und dem heutigen Peter Curtin sowie von dem, wozu er fähig war, erschien ihm abstrakt und unrealistisch. Er dagegen wusste bis ins letzte Detail, womit sie es
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