Das Rätsel
geschmeidigen Bewegung zog er seine noch nie benutzte Neun-Millimeter aus dem Schulterholster und hielt dem Agenten den Lauf unter die Nase; der Mann fuhr unwillkürlich zurück und hob die Hände. »Heute Nacht wird improvisiert.«
Susan lachte, doch es klang hohl. Sie schob den Agenten sanft in Richtung Lenkrad. »Steigen Sie ein«, forderte sie ihn auf.»Sie fahren, Mr. Agent. Mutter, du vorne. Zeit fürs Familientreffen.«
Jeffrey legte die Pistole auf den Sitz zwischen sich und seiner Schwester. Die Aktentasche, die seine Mutter getragen hatte, hielt er auf dem Schoß. Aus der Innentasche seines Jacketts zog er eine kleine Taschenlampe in der Form eines Kugelschreibers, die einen roten Nachtlichtstrahl aussandte. Die schaltete er an und entnahm der Tasche zwei Akten. Jede enthielt vielleicht ein halbes Dutzend Blätter.
Bei der ersten handelte es sich um das geheime Dossier der Staatssicherheit über Caril Ann Curtin. Er überflog es auf der Suche nach irgendeinem Hinweis darauf, wie sie angesichts der Wahrheit reagieren würde. Doch diese Hoffnung konnte er begraben. Das Dossier kündete nur von einer engagierten, wenn auch etwas zugeknöpften Angestellten im öffentlichen Dienst. Bei Beförderungstests und Leistungskontrollen schnitt sie hervorragend ab, arbeitete effizient und reibungslos mit Kollegen zusammen und bekam die besten Noten von Vorgesetzten. Über gesellige Aktivitäten in ihrer Freizeit gab das Dossier wenig her, auch wenn ein Eintrag Jeffrey Kopfzerbrechen machte: Caril Ann Curtin war Mitglied in einem Schützenverein für Frauen, wo sie für ihre Schießleistungen schon mehrere Auszeichnungen erhalten hatte. Darüber hinaus war sie in Kirchen- und Bürgerorganisationen aktiv, war Mitglied in mehreren Fitnessclubs und im Vorjahr beim Marathon von New Washington unter vier Stunden gelaufen.
In Bezug auf ihr Leben vor ihrer Ankunft im Einundfünfzigsten Bundesstaat schwieg sich das Dossier weitestgehend aus. Es hieß darin, sie habe einen Abschluss in Betriebswirtschaft, vom Community College in Georgia. Ihre berufliche Laufbahn war relativ kurz, zeugte jedoch von ihren beträchtlichenFähigkeiten als Sekretärin. Die Akte enthielt zwei Briefe von früheren Vorgesetzten, die sie wärmstens empfahlen. Einer kam von dem Anwalt in Trenton – ein Detail, das der gute Mann in dem unfreiwilligen Gespräch mit Jeffrey Clayton tunlichst verschwiegen hatte. Der andere war, wie Jeffrey vermutete, entweder erzwungen oder gefälscht, aber für die damalige Situation, als der neue Staat erste Konturen annahm, wohl mehr als angemessen. Sie war scheinbar qualifiziert und scheinbar perfekt. Ihr Mann verfügte über Geld und knauserte nicht damit. Nachdem sie in der Bürokratie erst einmal Fuß gefasst hatte, kämpfte sie sich mit der Entschlossenheit eines Lachses, der gegen den Strom zur Brutstätte schwimmt, die Karriereleiter empor.
Jeffrey legte diese Akte beiseite und öffnete die zweite.
Die war sogar noch kürzer. Es war ein Computerausdruck vom National Crime Information Center. Die erste Zeile lautete:
Elizabeth Wilson: verstorben
.
Jeffrey schüttelte den Kopf.
Nicht verstorben, dachte er. Sondern wiedergeboren.
Der Eintrag in der bundesstaatlichen Datenbank beschrieb eine junge Frau, die im ländlichen West Virginia aufgewachsen war. Ihr Jugendstrafregister war beträchtlich: Einbruch, Brandstiftung, Raubüberfall, Körperverletzung und Prostitution. Ein kurzer Bericht vom Amt für Bewährungshilfe im Lincoln County erwähnte, es gebe starke, wenn auch unbewiesene Anhaltspunkte dafür, dass sie als Kind wiederholt von ihrem Stiefvater missbraucht worden sei.
Elizabeth Wilson war mit neunzehn Jahren wegen Totschlags hinter Gitter gekommen. Als ein betrunkener Freier sich nach dem Sex weigerte, sie zu bezahlen, habe sie zur Rasierklinge gegriffen. Der Freier hatte sie mehrmals mit der Faust geschlagen, bevor er merkte, dass sie ihn vom Bauch bis zurHüfte aufgeschlitzt hatte. Nachdem sie drei Jahre in der Strafanstalt in Morgantown verbüßt hatte, kam sie auf Bewährung frei. Ein halbes Jahr nach ihrer Entlassung, so der Bericht, nahm sie eine Stelle in einer Biker-Bar in einer ländlichen Gegend des Staates an, etwa siebzig Meilen von der Stadt entfernt. An dem Abend, an dem sie ihren Dienst antrat, hatte sie mit einem Mann das Lokal verlassen und wurde nie wieder gesehen.
In einer nahe gelegenen Höhle entdeckte die Polizei zerrissene, blutverschmierte Kleider, doch ihre Leiche blieb
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