Das Rätsel
sich unbeobachtet. Das war wichtig, um die Illusion aufrechtzuerhalten. Ihn in dem Glauben zu wiegen, er käme allein und wäre nicht in der Lage, eine Falle zu erkennen oder zu umgehen.
Die Einfahrt bog um etwa neunzig Grad nach rechts, und Jeffrey merkte, wie er unter den letzten Bäumen, die ihn vielleicht noch verdeckten, langsamer ging, bevor er am Fuß einer Anhöhe vor einer sorgsam gemähten Rasenfläche stand. Das Haus lag vielleicht fünfzig Meter weiter hinten, in der Mitte der kleinen Erhebung. Auf diesem letzten Stück gab es keine Büsche oder sonstigen Gewächse, um dahinter Deckung zu finden. Der Mond verlieh dem Gras einen silbrigen Schimmer, fast so, als wäre es ein großer, stiller Teich.
Das zweistöckige Haus war im Neowesternstil gehalten – weitläufig, modern, eine elegante, einladende Front, die von Geld und der Liebe zum Detail kündete. Es lag vollständig im Dunkeln, es brannte kein einziges Licht.
Immer noch am Rand der Rasenfläche, atmete Jeffrey tief durch und starrte geradeaus.
Er versuchte sich das Haus als Festung vorzustellen, als militärisches Zielobjekt. Er hob das Nachtsichtgerät an die Augen und begann, die Fassade abzusuchen. Unter jedem Erdgeschossfenster befanden sich Büsche. Vermutlich keine gewöhnlichen Büsche, dachte er, sondern gespickt mit spitzen, rasiermesserscharfen Dornen. Außerdem waren sie wohl auf einer losen Kiesfläche gepflanzt, die ein unüberhörbares knirschendes Geräusch verursachte, wenn jemand darüberlief. Auf der einen Seite sah er einen Wintergarten, doch selbst dieseroffene, gläserne Raum war von dichtem Gebüsch umzingelt.
Jeffrey schüttelte den Kopf. Es blieben nur wenige Möglichkeiten. Ein Weg führte durch die Haustür; ein zweiter durch die Hintertür und ein dritter durch die Geheimtür, an der Kimberly Lewis wohl erfahren hatte, dass die Welt nicht ganz so sicher war, wie man es ihr eingeredet hatte. Die Tür an der Rückseite konnte er nicht sehen, erinnerte sich jedoch an ihre Lage auf den Plänen – sie führte in die Küche. Doch das war zweifellos nicht der springende Punkt. Sie bot vermutlich eine ungehinderte Schusslinie, sowohl drinnen wie draußen.
Jeffrey ließ das Fernglas sinken und suchte das Gebäude weiter nach irgendeinem Zugang außer den beiden Türen vorne und hinten ab, auch wenn er wusste, dass er keinen finden würde. Er zuckte die Achseln und sagte sich, dass davon die Welt nicht unterginge: Wenn man sich etwas Bösem entgegenstellte, dann war es psychologisch vielleicht sogar das Beste, mit der Tür ins Haus zu fallen, statt sich von hinten anzuschleichen. Natürlich hoffte er, dass seine Schwester so klug sein würde, sich von der Rückseite her anzupirschen, so wie sie es besprochen hatten. Über dieses Detail machte er sich Gedanken. Susan konnte zuweilen unberechenbar sein und es sich vielleicht noch anders überlegen. Seltsamerweise zählte er darauf.
Wieder starrte er auf das dunkle Haus.
Dass er kein Licht sah, hatte nichts zu bedeuten. Er glaubte nicht, dass sein Vater geflohen war oder sich schon zu Bett begeben hatte. Er wusste nur, dass er gut mit der Dunkelheit zurechtkam und niemals ungeduldig wurde, wenn er darauf wartete, dass seine Beute zu ihm kam.
Jeffrey hielt die Automatik eng an die Brust gedrückt. Sie war hauptsächlich als Showeffekt gedacht. Er rechnete nichtdamit, davon Gebrauch zu machen. Doch bewaffnet am Haus einzutreffen gehörte zum Täuschungsmanöver.
Wieder ließ er laut die Luft entweichen. Er hatte lange genug am Rand des Rasens und gleichsam an der Peripherie seines Lebens gestanden: Jetzt war es an der Zeit, Flagge zu zeigen. Mit einem tiefen Atemzug duckte er den Oberkörper, löste sich aus dem Schutz der Bäume und rannte, so schnell er konnte, zum Haus.
Ein kurzer Gedanke streifte ihn: Sein ganzes Leben als Erwachsener hatte er als Lehrer und Wissenschaftler verbracht, eine Welt der Planung und folgerichtigen Ergebnisse, des Studiums und des Kalküls; in diesem Moment jedoch hatte er sich in eine ganz und gar andere Welt gestürzt, in der völlige Ungewissheit herrschte. Er erinnerte sich, wie er sich schon einmal an einen solchen Ort vorgewagt hatte, in einem verlassenen Lagerhaus in Galveston, auf der Suche nach David Hart. Damals allerdings hatten ihn zwei eiskalte Detectives begleitet, und die Dringlichkeit, die er dabei empfunden hatte, konnte sich in keiner Weise mit dem immensen Druck messen, der in dieser Nacht auf ihm lastete. Diesmal war er
Weitere Kostenlose Bücher