Das Rätsel
tatsächlich glaubte, sprach sie nicht aus: Falls ihr Bruder sich in diesem Punkt geirrt hatte, starben sie vielleicht alle in dieser Nacht.
Diana Clayton nickte und flüsterte: »Lass mir nur einen Moment, damit ich wieder zu Atem komme …«
»Alles in Ordnung, Mutter? Geht’s noch?«
Diana griff nach Susans Hand und drückte sie fest. »Werd’ nur langsam ein bisschen alt. Bin offenbar nicht ganz so fit für eine Nachtwanderung mitten durch den Wald wie du. Also, auf geht’s.«
Susan überlegte, was sie antworten sollte, doch alles schien völlig aberwitzig, wenn auch nicht aberwitziger als die Tatsache, dass ihre todkranke Mutter sich mit mörderischer Entschlossenheit durch dieses Dickicht kämpfte. Sie warf einen einzigen verstohlenen Blick auf Diana, wie um die Kraftreserven der älteren Frau zu taxieren. Doch sie wusste, dass ein Blick dafür nicht genügte und dass es außerdem in der Natur von Kindern lag – wie erwachsen sie auch waren –, ihre Eltern grundsätzlich entweder für stärker oder für schwächer zu halten, für idealer oder fehlerhafter, als sie tatsächlich waren. Und so vertraute Susan einfach darauf, dass ihre Mutter über Energien verfügte, von denen sie nichts ahnte.
Sie drehte sich um und spähte wieder zum Haus ihres Vaters hinüber. Ihr kam der Gedanke, dass sie noch vor wenigen Wochen ihrem Bruder ziemlich verworrene Gefühle entgegengebracht hatte und sich nunmehr bewaffnet durch feuchtesMoos und struppiges Gebüsch vorankämpfte, während er sich der allergrößten Gefahr aussetzte und darauf vertraute, dass sie die Situation zu seinen Gunsten wendete. Sie biss sich heftig auf die Lippe und lief weiter.
Diana folgte ihrer Tochter und umschiffte alle Hindernisse. Ausgerechnet in diesem Moment kam ihr der seltsamste Gedanke: Susan war so schön, wie sie ihre Tochter noch nie gesehen hatte. Dann peitschte ein Zweig zurück, sie duckte sich und murmelte einen Fluch, bevor sie weiterlief.
Die Waffen fest im Griff, kämpften sie sich langsam, aber sicher weiter zwischen den Bäumen voran zur Rückseite des Hauses und hofften, dass sie von drinnen nicht gesehen wurden.
Jeffrey saß auf der Kante eines üppigen, dunklen Ledersofas im großen Wohnzimmer seines Vaters, inmitten teurer Gemälde an den Wänden, einer Mischung aus moderner Kunst mit leuchtend bunten Farben, die sich über weiße Leinwand ergossen, und traditioneller Kunst des Westens – Cowboys, Indianer, Siedler sowie Pferdewagen der Kolonialzeit in romantisierten edlen Posen. Der ganze Raum mit seiner hohen Decke war voller kleiner Kunstgegenstände: indianische Vasen und Schalen; eine handgetriebene Kupferlampe mit brüniertem Schirm; echte, antike Navajo-Teppiche. Auf einem Sofatisch aus Glas rollte sich neben einem Buch von Georgia O’Keeffe eine mumifizierte Klapperschlange ein und zeigte im aufgerissenen Maul die spitzen Zähne. Es war der Raum eines reichen Mannes und die gewagte Mischung aus verschiedenen Stilen und Formgebungen, die dennoch einen exquisiten, kultivierten Geschmack verriet. Jeffrey bezweifelte, dass es in diesem Haus irgendwelche Reproduktionen gab.
Sein Vater saß ihm gegenüber in einem Sessel aus Holz und>Leder. Jeffreys kugelsichere Weste, die Maschinen- und die halbautomatische Pistole lagen zu seinen Füßen. Caril Ann Curtin stand direkt hinter ihrem Mann, eine Hand auf seiner Schulter, in der anderen immer noch eine kleine halbautomatische Waffe, entweder Kaliber zweiundzwanzig oder fünfundzwanzig, schätzte er, mit einem Schalldämpfer ausgestattet. Die Waffe eines Attentäters, dachte er. Eine Waffe, die heimlich und mit einem kaum hörbaren dumpfen Knall traf. Beide waren schwarz gekleidet; sein Vater in Jeans und einem Rollkragenpullover aus Kaschmir, Caril Ann in Steghose und einem handgestrickten Wollpullover. Sowohl der Erscheinung als der Ausstrahlung nach wirkte er jünger, als er tatsächlich war. Er war äußerst drahtig, immer noch athletisch; hatte eine weiche Haut, die sich straff über den Muskelpaketen spannte. Seine Bewegungen waren von einer raubtierartigen Geschmeidigkeit und einer lässigen Eleganz, die für Kraft und Schnelligkeit sprachen. Er stieß mit der Zehe gegen die auf den Boden gehäuften Waffen, und machte ein angewidertes Gesicht.
»Bist du hergekommen, um mich zu töten, Jeffrey? Nach all den Jahren?«
Jeffrey hörte seinen Vater reden und merkte, wie der Ton an alte Erinnerungen rührte, so wie einem nach Jahren plötzlich ein
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