Das Rätsel
außerdem – auch wenn seine Schwester und seine Mutter irgendwo hinter ihm durch die Dunkelheit schlichen – vollkommen allein. Er dachte unwillkürlich an das, was er Susan vor einigen Tagen gesagt hatte: »Wenn du das Monster besiegen willst, dann musst du bereit sein, in Grendels Höhle vorzudringen.« Er spürte das Metall seiner Waffe in den vor Angst feuchten Händen.
Keuchend rannte er vorwärts.
Die Entfernung schien sich auszudehnen. Seine Füße tappten durchs feuchte, glitschige Gras wie über Eis. Er schnappte nach Luft, und plötzlich schien die Haustür schlagartig näher gerückt zu sein. Er rannte die letzten Meter und warf sichschließlich mit dem Rücken an das dicke Holz, versuchte sich klein zu machen und erst einmal Luft zu bekommen.
Einen Moment lang zögerte er.
Er wollte gerade nach der Brechstange greifen, um sich gewaltsam Zugang zu verschaffen, doch dann hielt er inne. Er dachte an seine eigene Wohnungstür in Massachusetts, die unter Strom stand. Jeder, der einbrechen möchte, rief er sich ins Gedächtnis, versucht es unweigerlich erst einmal mit dem Türknauf. Also legte er, bevor er die Brechstange zu Hilfe nahm, die Hand auf den Knauf.
Er ließ sich drehen.
Nicht abgeschlossen.
Er hielt den Knauf in der Hand und biss sich auf die Lippe. Der Drehmechanismus verursachte nur ein kaum hörbares Geräusch. Langsam drückte er gegen die massive Tür.
Eine Einladung, dachte er.
Ich werde erwartet.
Er zögerte und ließ diese Erkenntnis in einer Mischung aus Faszination und Angst langsam sinken. Ihm wurde bewusst, dass er keineswegs nur die Tür zu einem Wohnhaus öffnete, sondern vielleicht die Tür zu allen Fragen über sich selbst. Immer noch geduckt schlich er sich in den offenen Raum, der ihn drinnen erwartete. Eine Sekunde lang wollte er die Haustür hinter sich offen lassen, doch er wusste, wie unsinnig das war. Indem er beide Hände benutzte, machte er sie lautlos zu und schloss damit auch das Mondlicht aus, so dass es noch dunkler um ihn herum wurde.
Mit dem Rücken zur Eingangsfront tappte er ein paar Schritte weiter und richtete die Maschinenpistole in seinen Händen nach vorn. Er holte noch einmal tief Luft und bewegte sich langsam im Krebsgang durch die Diele. Er strengte sich an, im Geist den Grundriss vor Augen zu haben, und ging noch einmaljede Räumlichkeit durch. Die Eingangshalle führt ins Wohnzimmer, dann weiter ins Esszimmer und in die Küche. Rechts geht eine Treppe nach oben, zu den Schlafzimmern und einem kleinen Arbeitszimmer in der Mitte, da hat er die Monitore der Alarmanlage. Hinter der Treppe befindet sich die Tür zum Keller. Im Haus war es pechschwarz; er hatte plötzlich panische Angst, gegen einen Tisch oder Stuhl zu stolpern, mit lautem Klirren eine Lampe oder Vase umzustoßen und durch ein solches Missgeschick auf sich aufmerksam zu machen.
Er blieb stehen, tastete nach der Wand und versuchte erneut, die Augen an das Dunkel zu gewöhnen. Er kramte in der Tasche nach der Kugelschreiberlampe, die er bereits auf der Fahrt im Wagen verwendet hatte. Er konnte kaum der Versuchung widerstehen, sie einzuschalten, um sich zu orientieren. Doch ihm war bewusst, dass er selbst mit dem bescheidensten Lichtstrahl verraten würde, wo er war.
Wo ist er?, fragte er sich.
Oben? Im Keller?
Jeffrey machte noch einen Schritt nach vorn, bewegte sich ganz langsam, lauschte auf irgendein Geräusch, das ihm bei seiner Jagd vielleicht helfen konnte, und konzentrierte sich mit aller Macht. Als irgendwo aus ferner Tiefe ein leiser, heiserer Laut zu ihm drang, ein Schrei oder Stöhnen, blieb er abrupt stehen und reckte sich unwillkürlich vor. Sein erster Gedanke war, dass er von dem Mädchen im Musikzimmer kommen musste. Er machte noch einen Schritt und streckte auf der Suche nach der gegenüber liegenden Wand die Hand vor sich aus.
Dann hörte er ein zweites Geräusch. Es war wie ein eiskalter Stich in den Magen – ein leises Klicken hinter seinem rechten Ohr, gefolgt vom plötzlichen, schrecklichen Gefühl eines Pistolenlaufs,der sich ihm wie ein Eissplitter in den Nacken bohrte.
Dann eine Stimme, halb Zischen, halb Flüstern: »Eine Bewegung, und du bist tot.«
Wie erstarrt blieb er stehen.
Mit einem schleifenden Geräusch schob sich an der Wand, an der er sich soeben noch entlanggetastet hatte, eine Schranktür auf, und eine kleine, schwarz gekleidete Gestalt glitt in die Diele.
Die Gestalt, die Stimme, der Druck des Laufs an seinem Hals schienen alle Teil
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