Das Rätsel
aufglühten, wenn der Mann seinen Ärger im Zaum halten musste, so dass sie seine Emotionen verrieten.
»Das heißt«, fuhr Martin leise fort, »eins vielleicht schon. Ich glaube Ihnen, dass Ihre Mutter Ihnen erzählt hat, er wäre gestorben, und vermutlich hat sie auch gesagt, er hätte Selbstmord begangen. Der Teil stimmt, nehme ich an. Ich meine, dass sie es gesagt hat.« Er hüstelte, als versuchte er, höflich zu sein, auch wenn es eher spöttisch klang. »Aber das war’s denn auch schon, was?«
Jeffrey schüttelte den Kopf, worüber Martin wieder grinsen musste. Offenbar lächelte der Detective umso häufiger, je wütender er wurde.
»Passiert doch alle Tage, nicht wahr, Professor? Herr Todesexperte. Serienmörder überkommt nicht selten eine solche Abscheu gegen die Widerwärtigkeit ihrer Morde, dass sie ihre eigene erbärmliche, diabolische Existenz nicht länger ertragen und aus dem Leben scheiden, so dass sie der Gesellschaft die Mühe ersparen, sie aufzutreiben und vor Gericht zu bringen. Richtig, Professor? Das ist gar nicht mal ungewöhnlich, stimmt’s?«
»Es kommt vor«, bestätigte Jeffrey schroff, »aber nicht oft. Die meisten Wiederholungstäter in unseren Studien kennen keine Reue. Nicht die Spur. Das gilt natürlich nicht für alle. Aber für die meisten.«
»Demnach hätten sie einen anderen Grund, einen dieser vergleichsweise seltenen Selbstmorde zu begehen?«
»Man kann eher sagen, sie haben sich mit dem Tod arrangiert, sie können damit leben – mit ihrem eigenen und dem anderer Menschen.«
Der Agent nickte und schien mit der Wirkung, die seine sarkastische Frage auslöste, recht zufrieden.
»Wie kommt es eigentlich«, fragte Jeffrey bedächtig, »dass Sie mich hier aufgestöbert haben? Wie kommt es, dass Sie mich mit dem Mann, der möglicherweise oder auch nicht vor überzwanzig Jahren ein Verbrechen begangen hat, in Verbindung bringen? Wie kommen Sie darauf, dass mein Vater, der in Wahrheit tot ist, irgendwie auf die Erde zurückgekehrt ist, um Ihr Tatverdächtiger bei diesem jüngsten Mord zu werden?«
Agent Martin lehnte den Kopf zurück. »Ganz vernünftige Frage«, meinte er.
»Ich bin auch ein vernünftiger Mann.«
»Das wage ich zu bezweifeln, Professor. Ich halte Sie für hochgradig unvernünftig. Kolossal unvernünftig. Aberwitzig unvernünftig. Das haben wir übrigens gemeinsam. Nur so kommt man durchs Leben, nicht wahr? Indem man unvernünftig ist. Jeder Atemzug in dieser beschaulichen, kleinen akademischen Welt ist unvernünftig, Professor. Denn wenn Sie vernünftig wären, dann wären Sie nicht das, was Sie sind. Dann wären Sie der Mann, von dem Sie befürchten, dass er in Ihnen steckt. Nicht anders als bei mir, wie gesagt. Trotzdem will ich gern versuchen, ein paar Ihrer Fragen zu beantworten.«
Wieder dachte Jeffrey, er sollte reagieren, er sollte voller Empörung alles weit von sich weisen, was der Detective behauptete, er sollte aufstehen und den Raum verlassen. Er tat nichts dergleichen.
»Bitte«, sagte er kalt.
Martin drehte sich zur Seite und bückte sich nach seiner Aktentasche. Er kramte in einigen Papieren und holte schließlich einen Stapel Polizeiberichte heraus. Diese blätterte er kurz durch, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Dann zog er eine Lesebrille mit halbmondförmigen Hornrandgläsern aus der Innentasche seines Jacketts, setzte sie sich auf und warf nur einen letzten Blick darüber auf den Professor, bevor er sich den Schriftstücken widmete.
»Macht mich alt, finden Sie nicht? Und ein bisschen distinguiert.« Der Detective lachte leise, als wollte er die Widersprüche in seinem Erscheinungsbild unterstreichen. »Das ist die Abschrift einer Befragung, die ein Kollege von der Staatspolizei New Jersey bei einem gewissen Mr. J. P. Mitchell durchgeführt hat. Sie kennen den Namen?«
»Ja, natürlich. So heißt – so hieß mein verstorbener Vater.«
Agent Martin schmunzelte. »Sicher. Also, der Detective geht erst mal fürs Protokoll die üblichen Angaben durch, sagt, um welchen Fall es sich handelt, nennt Datum, Uhrzeit und Ort … alles hübsch nach Vorschrift einschließlich der Belehrung über die Rechte. Er lässt sich Telefon- und Versicherungsnummer, Adresse und alles Mögliche geben, und Ihr alter Herr scheint nichts zu verschweigen …«
»Vielleicht hatte er dazu ja auch keinen Grund.«
Wieder grinste der Agent. »Sicher. Jetzt kommen wir zu der Stelle, an der der Detective in einigen Einzelheiten den Mord an dem Mädchen
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